Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
ich von dem bekloppten Nietzsche gelernt.“
„Sag das noch mal.“
Erneutes Seufzen des Professors, aber er kam der Aufforderung nach. Und setzte noch einen Satz hinterher: „Bist du dir deiner Werte sicher, dann bist du wieder im Handlungsmodus. Frei.“
„Mit allem was du sagst, hatte ich in meiner schlaflosen Woche zu tun gehabt.“
„Schon ein Ergebnis?“
„Nur Ahnungen, aber deine Bemerkung lässt mich gerade spüren, dass sich da bald etwas ändern könnte.“
„Schön. Dann man Mords Heil!“, sagte der Professor und lachte.
1981 II
Die Erinnerung an seine „gefühlt schlaflose Woche“, wie er es gegenüber dem Professor ausgedrückt hatte, ließ Manfred augenblicklich davon Abstand nehmen, dem vor ihm sitzenden Mann einen Schluck Wasser zu geben.
Denn als ihn die Vergangenheit in dieser schlaflosen Woche eingeholt hatte, war es ihm nicht gut gegangen. Die Erinnerung war schmerzhafter als das Ereignis es je gewesen war, jedenfalls war Manfred es so vorgekommen. Das ist nicht ungewöhnlich. Eine ganze Profession lebt davon, in der Tiefe der Seele versteckte Verletzungen dem Leidenden ins Gedächtnis zu rufen, um ihn anschließend über ein Fegefeuer der Emotionen zur inneren Freiheit zu verhelfen. Viele Menschen glauben, dass ihnen ein von ihrem Verstand gesteuerter Zugang zu ihren erlittenen Verletzungen hilft, damit umzugehen. Aber da, so sind sich die Seelenhelfer sicher, täuschen sie sich. In Wirklichkeit haben sie Angst vor der drohenden Wucht der Gefühle, ein Zusammenhang, den die Betroffenen durchaus ahnen können, aber aus Gründen des Selbstschutzes nicht zulassen.
An all das hatte Manfred denken müssen, als die Verletzung bei ihm Eintritt verlangte. „Nein, ich laufe nicht davon“, sagte er zu sich, als er sich eines Morgens, nachdem ihm eine fast schlaflose Nacht die Verletzung aufs Kopfkissen gelegt hatte, besonders tief in den Spiegel schaute.
Möglicherweise half ihm zu dieser weisen Entscheidung auch schlicht und einfach die ungeheure Macht, mit der sich die Verletzung gemeldet hatte. Sie fragte nicht etwa, „Hast du ein bisschen Zeit für mich, lieber Manfred“ oder ließ mit Sätzen von sich hören wie „Wenn du nichts Besonderes vorhast, hätte ich, mit Verlaub, einen Vorschlag bezüglich der heutigen Gestaltung deines Seelenlebens zu machen“, nein, die Verletzung hielt überhaupt nichts von so einer eher sozialverträglichen Art, sich bei Manfred zu melden. Die Verletzung bestand schonungslos und unerbittlich auf alleinige Aufmerksamkeit. Sie war sogar so frech, mit einer Krankheit zu drohen für den Fall, dass man sie einfach zur Seite drückt.
Das Erste, was sich Manfred fragte, war, warum ausgerechnet jetzt? „Du hast viele Jahre Zeit gehabt, dich zu melden“, sprach Manfred, immer noch in den Spiegel schauend, zu der Verletzung. Es dauerte nicht lang, da musste sich Manfred wegen seiner Frage an den Kopf fassen, als ihm klar wurde, dass ein Ereignis in Gorleben der Türöffner zu der Verletzung gewesen war. Es handelte sich um das Gespräch mit Ilona, das er dort geführt hatte. Beziehungsweise, korrigierte Manfred seine Gedanken, genauer bedacht war es gar nicht das Gespräch, sondern eine Situation, in der sie miteinander geschwiegen hatten, und in der er sich gefragt hatte, wie er wohl als zehnjähriger Junge gelitten haben mag, als er Ilona nach der Grundschulzeit nicht wiedersah.
Wobei das nur den Rahmen der Verletzung dargestellt hatte, die sich jetzt mit so großer Macht bei ihm meldete. In Gorleben hatte die Verletzung lediglich am Rande auf sich aufmerksam gemacht und war sofort fortgeflogen, ganz so, als wolle sie sich selbst zurücknehmen, frei nach dem Motto, so wichtig bin ich nicht. Kann sein, dass ich in Gorleben meinen Gedanken unter dieser Bedingung freies Geleit gegeben habe, dachte Manfred, aber tatsächlich war das nur eine Verdrängung der vollkommensten Art.
Verdrängen wollen hatte Manfred in Gorleben einen Brief, den er Ilona in der vierten Schulklasse geschrieben hatte.
Die Erinnerung an diesen Brief hatte Manfred in dieser Spätsommernacht des Jahres 1980, kaum war er eingeschlafen, aus den Federn gerissen. Der Brief hatte neben ihm gelegen, wenn auch nur im Geiste. Im Traum hatte Manfred immer und immer wieder den Brief entziffert, den er vor über 30 Jahren geschrieben und bald darauf vernichtet hatte.
Der Brief war eigentlich etwas Schönes gewesen, denn es war ein Liebesbrief. Nachdem Manfred ja einmal
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