Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
allzeit bereit; fast zitterten die kleinen Menschen vor Lust nach Verspottung, es dauerte nicht lange und sie erlebten sich, angezettelt von dem Draufgänger, Richtung Siedepunkt schreiend: „Manfred kann nicht schreiben, Manfred kann nicht schreiben.“ Die Kinder grölten den Satz immer und immer wieder, es klang bald wie ein rhythmischer Sprechgesang; unbewusst wurden sie dabei angetrieben von dem erlebten Bombenhagel im noch nicht lang zurückliegenden Krieg. Fast agierten die Schüler bei ihren Schmähungen gegen Manfred wie kleine Kindersoldaten, wobei sie von der Trostlosigkeit ihres Klassenraums ihrer grauen Grundschule ihrer schaurigen Kleinstadt noch angestachelt wurden.
„Stell dich nicht so an“, war Manfreds erste Reaktion gewesen, als ihn die Erinnerung an dieses Ereignis 30 Jahre so verdammt quälte. Manfred wollte nicht, dass er sich wegen dieser Sache in Selbstmitleid ergeht. Denn er dachte an all das Leid, was andere Menschen erfahren mussten und was ist da schon, kam Manfred in den Sinn, ein Bündel Entgleisungen, wie er sie in der vierten Klasse im Jahre 1949 hatte aushalten müssen, gegen Folter, Gaskammern oder Ähnliches. Aber Manfred gelang es nicht, sich mit diesem Vergleich wirklich zu beruhigen, dafür wusste er zu viel über die Nichtvergleichbarkeit von Leiden.
Wobei das Leiden, das er in Zusammenhang mit seinem Brief an Ilona erfahren hatte, bisher noch gar nicht vollständig dargestellt ist. Man kann fragen, ob sich Manfreds erlebte Demütigungen in seiner Grundschulzeit wirklich als so wirkungsmächtig hätten erweisen können, wenn da nicht noch etwas anderes gewesen wäre. Etwas, was mit Manfreds Erlebnissen in und nach Gorleben zu tun hat.
Der raubeinige und draufgängerische Schüler, der bei den Schmähungen die entscheidende Rolle gespielt hatte, der Manfred auch den Brief entwendet und dessen Inhalt an die Tafel geschrieben und ihn an der Wand aufgehängt hatte, war schließlich nicht irgendjemand gewesen. Sondern es war der Junge gewesen, der 1980 dafür verantwortlich war, dass sich Manfreds Liebe zu Ilona nicht erfüllen sollte. Es war Werner.
Und dieser Werner saß jetzt direkt vor Manfred auf dem Fußboden und bat um einen Schluck Wasser. Manfred hatte die Flasche schon in die Hand genommen und wollte sie ihm gerade an den Mund legen, da ließ ihn die Erinnerung an seine Erinnerungen augenblicklich davon wieder Abstand nehmen.
*
„Genauer!“
„Wie genauer? Sag mal, was hast du eigentlich davon?“
Manfred antwortete nicht.
„Wir haben dich dann gehänselt, das weiß ich noch“, legte Werner nach.
„Wer hat damit angefangen?“, wollte Manfred hören.
„Du stellst Fragen... Ist ja nun immerhin 30 Jahre her. Das hat sich doch so hochgeschaukelt.“
„Wer hat mit dem Hochschaukeln angefangen?“
„Also... Manfred du scheinst das besser zu wissen als ich. Was soll das?“
„Wir wissen es beide und du sagst es.“
„Gut, das war ich. Aber so siehst das viel zu dramatisch, das war doch Spaß. Ich war zwölf Jahre alt und...“
„...damit zwei Jahre älter als alle anderen“, unterbrach Manfred. „Weil du ein Jahr später eingeschult wurdest und in der dritten Klasse sitzen geblieben bist.“ Manfred zündete sich eine Zigarette an und blies den Rauch Werner ins Gesicht. „Und du bist kraft der Verbindungen deines Vaters nach der vierten Klasse trotzdem aufs Gymnasium gekommen.“
„Moment, Moment, Manfred. Meine Noten waren gut.“
„Weil dein Vater unseren Klassenlehrer unter Druck gesetzt hat. Wie auch immer er das gemacht hat.“ Manfred rückte näher an Werner ran.
„Egal“, fuhr Manfred fort, „sag‘ mir, was du den Schülern unserer Klasse gesagt hattest, was sie dir nachsprechen sollten.“
„Ich bitte dich, wir...“
„Du schätzt deine Situation hier völlig falsch ein, Werner. Sag es!“
Sein Gesicht zeigt Angst, sagte sich Manfred. Und es ist vollkommen in Ordnung, dass ich das genieße, sagte sich Manfred auch noch.
„Ich...“
„Falsch, Werner. Absolut falsch. Mit dem Wort ‚ich‘ fing das nicht an.“ Manfred zog so tief an seiner Zigarette, dass die Glut Werners Gesicht hell erleuchtete.
„Wenn dir warm sein sollte, Werner, nehme ich dir übrigens gern die Decke weg." Es waren lediglich wenige Grad über Null, hier in einem kleinen Raum direkt unter der Autobahnbrücke.
„Wo ich schon nichts zu trinken kriege... Das ist Folter.“
„Du interessierst dich neuerdings für
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