Wo der Tod begraben liegt (German Edition)
seine Strümpfe ausgezogen und Ilona angezogen hatte, weil Ilona beim Laufen durch eine große Pfütze ganz nasse Füße bekommen hatte, schrieb er ihr diesen Brief, denn er war viele Stunden ganz glücklich darüber gewesen, dass es Ilona eine so große Freude gewesen war, wie er ihr gegen die nassen Füße geholfen hatte. Manfreds Herz war danach so viele Stunden so in Flammen gewesen, dass er das Ilona unbedingt mitteilen musste und zum Füllfederhalter griff.
Bei der Frage, wie Manfred den Brief an Ilona denn geschrieben hatte, muss man die Antwort unbedingt in zwei Teilen darlegen. Der Inhalt des Liebesbriefes zeigte in ganz typischer Manier, wie ein zehnjähriger Mensch seine Zuneigung ausdrückt. So lauteten die letzten Zeilen: „ Wenn du dann das nächste Mal in eine Pfütze läufst, kann ich dir ja wieder meine Strümpfe geben. Aber ich kann dir auch helfen, wenn du nicht in eine Pfütze läufst. Jetzt noch nicht so wie später mal, wenn wir nicht mehr in die Schule und immer zu unseren Eltern müssen. Dann kann ich dir ja immer helfen. Das tut dir ja gut, das haben wir ja bei den Strümpfen gesehen. Manfred.“
Was Manfred alsbald und dann nochmal 30 Jahre später so quälen sollte, hat nichts mit dem Umstand zu tun, dass Ilona diese Zeilen nie zu Gesicht bekommen hatte – das hätte Manfred vielleicht als ausgesprochen ärgerlich, aber nur unschwer als bedrohlich empfinden können. Manfreds Pein begründete sich auf etwas anderes. Dafür muss man sich die Zeilen nochmal anschauen, und zwar so, wie sie ohne Rechtschreibkorrektur damals zu lesen waren: „ Wän du Dan das näste Mahl in eine Füzze läuftst, kan ich dir ja wider meine Strümfe geben. Aber ich Kan dir auch hälfen, wän du nich in eine Füzze läuftst. Jezt noch nich so wie späta mahl, wän wir nich mär in die Schule und imer zu unseren Ältern müssen. Dan kan ich dir ja imer hälfen. Das tud dir ja gut, das haben wir ja bei den Strümfen gesehän. Manfred.“
Um sich die dramatische Wirkungsgeschichte dieses Briefes voller Rechtschreibfehler vorstellen zu können, muss man erst einmal wissen, dass Manfred den Brief in der Schule geschrieben und beim Gang in die Pause auf seinem Schreibpult liegen gelassen hat. Wissen muss man darüber hinaus, dass dieser Brief sogleich von einem Mitschüler gefunden wurde.
Und dann muss man vor allem zur Kenntnis nehmen, dass Manfred die letzten Zeilen seines Briefes am Ende der Pause sofort wieder ins Auge fielen – und zwar an der Tafel in seinem Klassenraum. Dort las man Manfreds Zeilen mit den vielen Fehlern, wie er sie in dem Brief gemacht hatte. Überschrieben war die Tafel in Druckbuchstaben mit „Manfred schreibt einen Liebesbrief an Ilona.“ Ein ganzes Stück darüber, kurz unterhalb der hohen Decke, war Manfreds Brief an der Wand geklebt.
Als Manfred nach der Pause das Klassenzimmer betreten hatte, waren seine Schulkameraden bereits vollauf damit beschäftigt, sich dem Tafelbild und dem Brief zuzuwenden. Sie hatten nicht lange gebraucht, um die Gegebenheiten einzuordnen und so begannen sie augenblicklich, sich über Manfred lustig zu machen.
Manfred konnte kaum bis zu seinem Tisch vordringen, einige Schüler stellen sich ganz nah vor ihn hin und zeigten dabei mit dem Finger auf ihn. „Manfred ist verliebt“, musste er sich nacheinander von mehreren neckisch dreinschauenden Klassenkameraden anhören. Man kann sagen, dass Gemeinheiten dieser Qualität typisch für die ersten Reaktionen von Manfreds Klassenkamerden gewesen waren. Als sie dabei erlebten, dass ihre Äußerungen auf Beifall der anderen Schüler stießen, hatten sie sich viel schlimmere Gemeinheiten ausgedacht und waren alsbald bereit diese ohne Scham umzusetzen.
„Ob Ilona das überhaupt lesen kann“, war noch das Harmloseste, was Manfred aus ihren Gesichtern, die alsbald eigentlich nur noch Fratzen darstellten, zu hören bekam. Bald versuchten sich die Schüler mit ihren Schmähungen gegenseitig zu überbieten. Noch nie hatte Manfred derart laut ein „Ha, Ha, Ha“ vernommen – vorgetragen von gierigen Augen, beseelt davon, ihm so deutlich wie irgendwie möglich die eigene Absicht darzulegen, ihn zu erniedrigen. Und jeder aus der Klasse wollte mal ran. Ein sehr raubeiniger Schüler, dem die anderen meistens folgten, lebte vor, wie man Manfred fertigzumachen hat; man konnte sich der Anerkennung dieses draufgängerischen Jungen sicher sein, wenn man auf Manfred nur toll genug draufschlug – die Schülerseele war
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