Wo die Liebe beginnt
unangenehme Pause, in der ich mir überlege, wo wir uns am besten unterhalten können. Das Wohnzimmer kommt mir zu förmlich vor, und mein kleines Zimmer, vollgestellt mit persönlichen Erinnerungsstücken, zu intim. Dabei möchte ich nichts vor ihr verstecken, sondern sie ganz einfach nicht überfordern. Oder mir selbst den Heimvorteil bewahren. Darum entscheide ich mich für die Küche. Ich schalte das Licht ein, dimme es und fahre es wieder hoch. Dann deute ich auf die marmorne Kücheninsel, und wir setzen uns einander gegenüber auf zwei Barhocker. Mit eingefrorenem Lächeln mustern wir uns gegenseitig. Mir ist klar, dass sie noch aufgeregter sein muss als ich, wenn auch nur, weil sie halb so alt ist wie ich und die Umgebung fremd für sie.
Fieberhaft überlege ich mir, was ich sagen soll, irgendetwas Bedeutenderes als simplen Smalltalk, irgendetwas Fröhlicheres als die Geschichte von ihrem Lebensanfang. Aber mir fällt nichts ein, und das macht mich noch nervöser.
»Hast du Hunger?«, frage ich schlieÃlich und schaue in den Kühlschrank, in dem ich ein Sixpack Vitaminwasser, einen Salatkopf, einen Tetrapak Eiklar und einen groÃen Becher griechischen Joghurt entdecke. Ich ärgere mich, dass ich gestern auf dem Heimweg nicht noch bei Dean & DeLuca vorbeigeschaut habe, das mache ich sonst jeden Freitag.
»Nein, danke«, entgegnet sie, während ich im Kopf ihren Namen wiederhole, einen Namen, der mir in all den Jahren im Traum nicht eingefallen wäre. Kirby. Kirby. Kirby. Ich weià nicht, ob ich ihn hasse oder liebe, gebe ihren Eltern aber einen Punkt für Originalität. Und zwinge mich dazu, nicht nach ihnen zu fragen. Was machen sie beruflich? Was haben sie für Standpunkte in Sachen Politik oder Religion? Gleichen sie ihr äuÃerlich? Gleichen sie uns äuÃerlich, verbessere ich mich, noch immer geschockt von unserer Ãhnlichkeit. Aber ich unterdrücke alle Fragen über sie, weil ich befürchte, dass meine Neugier aufdringlich oder eifersüchtig rüberkommt. Und dann wird mir bewusst, dass ich tatsächlich ein bisschen eifersüchtig darauf bin, dass eine andere Frau den Menschen geformt hat, der gerade vor mir sitzt. Die Tatsache, dass ich absolut kein Recht habe, so zu empfinden, dass es ganz allein meine Entscheidung war, sie ihnen zu überlassen, macht die Wehmut in meinem Herzen nur noch gröÃer. Ich bin mir klar darüber, dass ich die anstrengenden Seiten der Mutterschaft nicht durchmachen musste â ich bin wie jemand, der bei einem Marathonlauf nur zusieht und sich am Ende wünscht, derjenige zu sein, der die Ziellinie überquert. Ich muss aufhören, so selbstbezogen zu denken. Heute Abend geht es um ihre Bedürfnisse, nicht um meine. Obwohl ich nicht ihre Mutter im weitesten Sinn des Wortes bin, versuche ich, eine Art mütterlichen Instinkt in mir zu wecken. Ich denke an meine eigene Mutter und an ihre Art der Problemlösung: ein Seelentröster-Essen und eine gute Nachtruhe.
»Bist du sicher, dass du keinen Hunger hast? Wir können uns was kommen lassen. Es gibt einen tollen Deli in der Nähe, der innerhalb von zehn Minuten eine prima Käse-Tomatensuppe liefert. Als hätten sie immer eine auf Lager, weil sie sich denken, dass garantiert irgendjemand im Umkreis von zehn Blocks gerade Lust darauf bekommt.«
Als ich merke, dass ich dummes Zeug rede, bremse ich mich. Sie schüttelt den Kopf und bedankt sich noch einmal.
Schon wieder von meinen Gefühlen überwältigt, drehe ich mich zum Kühlschrank um, verstecke das Gesicht. »Kann ich dir wenigstens was zu trinken anbieten? Kaffee, Tee, Vitaminwassser?«
Sie zögert, dann sagt sie â als wollte sie mir eine Freude machen: »Ein Vitaminwasser, gern.«
»Welche Geschmacksrichtung? Orange oder Zitrone?«
»Egal.«
»Ja, das ist es wohl«, sage ich mehr zu mir selbst und bemühe mich um eine ruhige Hand, als ich eine Flasche mit Orangengeschmack nehme, sie öffne und in ein groÃes Glas gieÃe.
»Wie bist du hierhergekommen?«, frage ich. Ich sterbe vor Neugier, ich will wissen, wo ihre Reise begann, will etwas über ihre Wohngegend wissen, ihr Haus, ihr Zimmer. Noch nie war ich so gierig auf Informationen, nicht mal am Anfang einer Beziehung, wenn man unbedingt alles über den anderen in Erfahrung bringen will â nein, muss. Als ich ihr Gesicht so betrachte, darauf
Weitere Kostenlose Bücher