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Wo die Liebe beginnt

Wo die Liebe beginnt

Titel: Wo die Liebe beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Emily Giffin
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würde es mir danach noch schlechter gehen? Für jedes Szenario machte ich eine Pro- und Contra-Liste. Wenn sie die letzte Versagerin war, hatten meine Eltern wohl recht – und dann wäre es mein Schicksal, genauso zu werden. Wenn meine Eltern aber ein falsches Bild von ihr hatten, würde sich auch ihre Theorie als falsch herausstellen. Aber dann hätte ich ein neues Problem: Warum hatte sie mich nicht gewollt? Wäre mein Leben besser verlaufen, wenn sie mich behalten hätte? Würde ich mich dann genauso fühlen wie jetzt: traurig, frustriert, einsam? Es schien keine Chance auf ein gutes Ende zu geben – dafür eine umso größere auf ein übles. Aber das war ja nichts Neues.
    Und dann bin ich endlich am Port Authority Terminal angekommen – einem gruseligen Loch, das noch schlimmer riecht als der Bus (was ich nicht für möglich gehalten hätte). Ich schaue mich um, habe keine Ahnung, wo ich hinmuss. Die drei Leute, die ich nach dem Weg frage, sprechen entweder kein Englisch oder wollen mit mir nicht reden. Schließlich finde ich einen Wegweiser zum Taxistand und folge den Pfeilen in Richtung Straße. Es ist die Eighth Avenue, die überhaupt nicht nach dem New York aussieht, das ich aus dem Fernsehen und dem Kino kenne. Überfordert mit der Situation wende ich mich an eine Uniformierte, die alle anblafft. Sie beachtet mich gar nicht, aber ich spreche lauter und frage, ob ich hier ein Taxi kriege. Sie deutet auf das Ende einer langen Schlange. Beim Warten entdecke ich eine obdachlose Frau auf der Straßenseite gegenüber. Sie hockt unter einer grauen Decke, hat ein Pappschild vor sich und einen Becher zu ihren Füßen. Wer weiß, vielleicht ist das meine Mutter? Vielleicht ist sie gerade aus der Wohnung, die die Agentur mir angegeben hat, zwangsgeräumt worden.
    Zwanzig Minuten später besteige ich ein Taxi, das erstaunlich sauber ist – ein gutes Omen. Ich nenne dem Fahrer die Adresse, die ich auswendig gelernt habe, und er rast mit Vollgas los. Alle paar Blocks müssen wir anhalten, und die Gegend wird immer besser. Wir fahren durch ein waldähnliches Gebiet, das ist bestimmt der Central Park, und kommen in einer Wohngegend wieder heraus. Eine Minute später stoppt der Fahrer, schaut mich an und deutet auf das Taxameter. Es zeigt 9,60 Dollar an. Ich gebe ihm elf – und erinnere mich an einen Rat meines Vaters: im Zweifel immer Trinkgeld geben. Darum schiebe ich ihm noch einen Dollar hin. Dann angle ich mir meinen Rucksack vom Nebensitz und steige aus. Ich stehe an der Ecke Eighty-eighth Street und Madison Avenue und schaue an dem Haus hoch, in dem meine leibliche Mutter wohnt.
    Verdammt , denke ich. Ich hab’s gewagt.
    Ich blicke auf meine schwarze Swatch, öffne nervös das Armband, mache es ein Loch weiter, dann gleich wieder enger. Es ist fast elf, das ist wahrscheinlich zu spät, um bei ihr zu klingeln, aber ich kann nicht bis zum nächsten Morgen warten, um die Wahrheit herauszufinden. New York ist doch die Stadt, die niemals schläft. Erst hoffe ich, sie ist noch wach, und dann hoffe ich, sie ist nicht zu Hause.
    Ich gehe auf dem Bürgersteig hin und her, während sich mein Magen zusammenkrampft. Ich kann nicht sagen, was ich mir mehr wünsche – dass ich sie mag oder dass ich sie nicht mag. Nach kurzem Zögern zwinge ich mich schließlich, das Haus zu betreten, und sehe mich in der Eingangshalle um. Alles ist vom Feinsten. Der Boden besteht aus glänzendem, schwarz-weißem Marmor, und auch der Rest wirkt edel. Die Vorstellung von der Crack-Höhle verflüchtigt sich schnell, aber ich fühle mich eher eingeschüchtert als erleichtert. Mein Herz rast. Da erscheint wie aus dem Nichts ein Portier und fragt, ob er mir helfen kann. Ich zucke zusammen und sage Hallo. Einigermaßen freundlich grüßt er zurück. Er hat glänzendes schwarzes Haar, ordentlich zur Seite gegelt, und trägt eine Uniform in Dunkelblau und Gold mit passender Kappe. Auf seinem Namensschild steht Javier . Eine Sekunde lang lese ich »Kaviar«, und ich stelle mir vor, dass sie gerade welchen isst, in einem Stockwerk hoch über mir.
    Â»Ich möchte zu Marian Caldwell«, sage ich und versuche, wichtig zu klingen – nicht ganz leicht in Jeans, T-Shirt und abgewetzter Jacke. Nervös zupfe ich mir einige Fussel vom Ärmel und wünsche mir, ich hätte sie doch gegoogelt. Belinda hat recht gehabt

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