Wo die Liebe beginnt
â ich hätte mich besser auf dieses Treffen vorbereiten sollen. Etwas Netteres anziehen. Oder gar nicht erst kommen sollen.
»Werden Sie erwartet?«, fragt Javier und mustert mich neugierig.
Ich gerate in Panik, weil ich mir denke, dass man ihn vielleicht vor der Ankunft eines verstörten Teenagers gewarnt hat. Im Geiste höre ich Belinda, die mir rät, jetzt nicht auszurasten â das sagt sie ständig. Mir wird klar, dass Javier überhaupt nichts über mich weiÃ. Er macht nur seinen Job. Trotzdem lächele ich vorsichtshalber, um nicht verstört rüberzukommen. Dann räuspere ich mich und sage: »Ja ⦠das heiÃt, ich glaube schon.«
In gewissem Sinne stimmt das auch. Sie erwartet mich vielleicht wirklich, hofft auf mich. Sie hat immerhin das Dokument unterschrieben, das mir erlaubt, mit achtzehn ihren Namen zu erfahren, und sie hat bestimmt daran gedacht, dass ich vor einer Woche Geburtstag hatte. Sie denkt bestimmt immer an meinen Geburtstag. Das wäre das Mindeste für eine Frau, die ein Kind geboren und dann weggegeben hat. Vielleicht hat sie sogar ein kleines Ritual, das sie jedes Jahr begeht. Vielleicht trinkt sie ein Glas Sekt zusammen mit ihrer besten Freundin oder ihrer Mutter, meiner GroÃmutter. Vielleicht backt sie einen Kuchen und steckt jedes Jahr eine Kerze mehr darauf. Ob sie auch so gern Schokolade isst wie ich? Vielleicht erzählt sie mir ja auch, dass ich meine Vorliebe für SüÃes von meinem Vater geerbt habe. Vielleicht weià ich bald mehr.
Als Javier sich umdreht und einen Knopf auf einem groÃen Schaltbrett drückt, kommt mir kurz der Gedanke, einfach wieder zu verschwinden. Aber dann stehe ich so still wie die Marmorstatuen neben dem Aufzug und halte den Atem an, weil ich erwarte, gleich ihre Stimme zu hören, die fragt, wer da ist. Aber es ertönt nur ein lautes Summen, und Javier sagt: »Sie können nach oben fahren!«, und weist mit groÃer Geste zum Aufzug.
Das nehme ich als ein gutes Zeichen. Sie ist gastfreundlich und lässt einen hinein, auch wenn sie keine Ahnung hat, wer vor ihrer Tür steht. Andererseits hält sie mich vielleicht für jemand anders. Sie hat vielleicht eine richtige Tochter, die schnell Kaugummi und Milch besorgt hat und gerne mal den Schlüssel vergisst.
Jedenfalls gibt es jetzt kein Zurück mehr. »Ãh ⦠welches Stockwerk?«
»Das Penthouse!«, antwortet Javier und deutet mit Grandezza Richtung Himmel.
Ich nicke, als bekäme ich jeden Tag gesagt, ich solle hoch zum Penthouse fahren, aber innerlich verursacht das Wort mir Panik. Ich klammere mich an die Riemen meines Rucksacks, schlucke und gehe die paar Schritte zu den polierten Aufzugtüren. Sie öffnen sich plötzlich, und heraus tritt ein alter Mann mit einer Hose bis zum Bauchnabel und einem ordentlich getrimmten Zwergpudel in rosa Mäntelchen und pinkfarbenem Glitzerhalsband. Die zwei passen überhaupt nicht zusammen, bis auf die Tatsache, dass beide mich missbilligend anschauen, als ich an ihnen vorbeigehe. Alleine im Aufzug atme ich tief durch und drücke den Knopf, auf dem »PH« steht. Als die Türen sich schlieÃen, lege ich mir noch schnell meinen ersten Satz zurecht:
Hallo. Ich bin Kirby Rose. Ihre Tochter.
Hallo. Ich bin Ihre Tochter. Kirby Rose.
Hi. Ich heiÃe Kirby Rose. Ich glaube, ich bin Ihre Tochter.
Das Wort Tochter erscheint mir irgendwie zu intim, aber es gibt nun mal kein anderes. Dann werde ich plötzlich aus meinen Gedanken gerissen, weil sich die Türen direkt im Eingangsbereich einer Wohnung öffnen. Dahinter sehe ich das Wohnzimmer. Es hat ein groÃes Fenster, das praktisch die gesamte Wand einer Seite einnimmt. Alles ist ordentlich, schick, perfekt, und es gibt keine Hinweise auf Kinder oder Babys. Meine Erleichterung darüber ist mir unbehaglich â ich identifiziere mich schon zu sehr mit ihr.
Und dann ist sie da. Elegant schreitet sie auf mich zu, gekleidet in einen pinkfarben-grün gemusterten Baumwollpyjama. Er ist ihr ein bisschen zu weit, aber ich sehe, dass sie schlank und durchschnittlich groà ist. Sie wirkt jünger als meine Eltern, etwa fünfunddreiÃig, aber es ist ja oft schwierig, das Alter von Erwachsenen einzuschätzen. Sie hat blondes Haar mit noch helleren Strähnchen, zurückgebunden in einen lässigen, aber modischen Pferdeschwanz. Ihr Gesicht ist schmal und länglich, und eine Sekunde lang
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