Wo die Liebe beginnt
warte, dass sie zu reden beginnt, merke ich, dass es sich tatsächlich ein bisschen wie am Anfang einer Beziehung anfühlt. Ich spüre Faszination und Zuneigung, gepaart mit egoistischer Neugier.
»Mit dem Bus«, antwortet sie, ohne eine Spur von Akzent. Da ist nichts in ihrer Stimme, das ich einer bestimmten Region zuordnen könnte. »Greyhound.«
»Oh!«, rufe ich geschockt, weil ich mich an die Geschichte des Mannes erinnere, der seinen Sitznachbarn im Greyhound geköpft hat.
»Ja, war schon irgendwie krass. Aber jetzt bin ich ja hier.«
Ich nicke und frage: »Und wo wohnst du?«
»In St. Louis.«
»Und da bist du auch aufgewachsen?«
»Na ja. Eigentlich komme ich ja aus Chicago â¦Â«, bemerkt sie und wirft mir einen pikierten Blick zu. »Aber ich habe mein ganzes Leben in St. Louis verbracht. Im selben Haus.«
Mit einem komischen Gefühl im Magen denke ich an meine erste Reise nach St. Louis vor etwa zehn Jahren, da war Kirby sieben oder acht. Ich war wegen der Hochzeit einer Freundin hingefahren, und nach der Zeremonie machte ich erst mal alleine einen Spaziergang durch die Gegend um die Kirche. Ich weià noch genau, wie kalt und feucht die Luft war und wie grau der Himmel mit seinen dunklen Wolken über mir hing. Diese Stimmung verstärkte mein Gefühl der Einsamkeit noch, denn ich war ohne Partner zu der Hochzeit gekommen. Ich höre noch das Geräusch meiner Absätze, die die Reste des Herbstlaubs auf dem Bürgersteig zermalmten, und ich sehe die einfachen, rotverklinkerten Einfamilienhäuser mit ihren Mansardendächern, den bunten Glasfenstern und den gepflegten Gärten noch vor mir. Ein gemütliches Häuschen neben dem anderen, oft geschmückt mit amerikanischen Flaggen, Blumenkästen und Initialen in den Türgittern. Am deutlichsten aber erinnere ich mich an meine plötzliche, starke Sehnsucht auf dem Weg zurück zur Kirche â als hätte ich irgendwie gespürt, dass sie in meiner Nähe war. Rückblickend erscheint das wie eine fast schon unheimliche Vorahnung â aber dann wird mir klar, dass ich dieses Gefühl öfter hatte, meist wenn ich mich in einer fremden Umgebung bewege, in der ich niemanden kenne, manchmal aber auch in meiner gewohnten Gegend. Aber ich erzähle ihr die Geschichte trotzdem und schildere den unglaublichen Zufall.
Sie wirkt skeptisch, bleibt aber höflich. »Wo war die Hochzeit denn? In welchem Stadtteil?«
»Das weià ich nicht mehr genau. Es war eine groÃe, katholische Kirche. Mit bunten Glasfenstern. St. Joseph? Oder vielleicht St. Mary?«
»Tja, davon gibtâs viele«, meint sie.
Ihre Antwort ist nicht frech, aber ich entnehme ihr, dass sie nicht nur klug ist, sondern auch gerne das letzte Wort hat.
»Da hast du wohl recht.«
»Aber es hätte meine Wohngegend sein können«, sagt sie jetzt etwas milder. »Ich lebe im Süden. Neben St. Gabriel. Das ist unsere Kirchengemeinde. Könnte die Hochzeit da stattgefunden haben?«
»Vielleicht.« Ich stelle mir vor, wie sie, umringt von ihren Freundinnen, in ihrer dunkelblauen und weiÃen Schuluniform über die StraÃe läuft. Ordentlich gebügelter, karierter Rock, wollene Kniestrümpfe mit Zopfmuster. Sie sind auf dem Weg zur Eisdiele. Ein Mädchen stiftet die anderen zum Rauchen an, aber Kirby weigert sich.
Sie schaut mir in die Augen, dann zögert sie und atmet tief durch. »WeiÃt du, was komisch ist?«
»Was denn?«
»Du hast mich zwar in Chicago geboren, aber ich habe immer gespürt, dass du in New York wohnst.« Sie zuckt mit den Schultern, als schämte sie sich ein bisschen. Und was weià sie sonst noch über mich? Hat sie Pressefotos gesehen, auf denen ich über rote Teppiche schreite? Womöglich gar dieses eine mit Peter?
»Ja«, sage ich. »Ich lebe schon einige Jahre hier. Ich arbeite in der Fernsehbranche. Da wohnt man entweder hier oder in L. A.«
Sie ist überrascht. Das überrascht mich wiederum. »Fernsehbranche? Bist du Schauspielerin?«
»Nein, Produzentin.«
»Von Filmen?«
»Nein, Fernsehserien. Kennst du South Second Stree t ?«
»Ja«, ruft sie mit jugendlichem Enthusiasmus und einem breiten Lächeln. Mir fällt auf, dass die Zähne in ihrem Unterkiefer leicht schief stehen, die beiden Schneidezähne überlappen sich ein wenig. Sie hat also keine Zahnspange
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