Wo die Liebe beginnt
getragen. Ich überlege, ob ihre Eltern sich keine leisten konnten oder der Meinung waren, ihre Tochter solle sich ein natürliches Lächeln bewahren.
Ich lächele auch. »Das ist meine Serie.«
»Die liebe ich, die schaue ich so gerne«, sagt sie. »Ich mag besonders diesen Bauunternehmer, wie heiÃt der Schauspieler noch? Shaba Derazi?«
Ich nicke. »Ja, der ist gut. Er dreht gerade einen Spielfilm in Toronto. Mit Matt Damon.«
Die Insider-Infos berauschen sie. Aber ich bin noch aufgeregter, weil sie meine Arbeit kennt und gut findet. Gleichzeitig fühle ich mich schuldig, weil ich nichts über sie weiÃ. Nichts über ihre Ãngste, ihre Leidenschaften oder Zukunftsträume. Ich weià nicht, ob sie mit der linken oder der rechten Hirnhälfte denkt, ob sie sportlich oder unsportlich ist, ob sie introvertiert oder extrovertiert ist. Ich weià nicht, ob sie schon mal verliebt war oder ein gebrochenes Herz hatte. Mir ist natürlich bewusst, dass das Teil der Abmachung bei einer sogenannten »geschlossenen Adoption« ist, aber ich schäme mich trotzdem für meine Ahnungslosigkeit, mein Desinteresse. Ich wende den Blick ab, während ich die letzten achtzehn Jahre Revue passieren lasse und ihr Gesicht in die Szenen einsetze, die ich mir immer vorgestellt habe, obwohl ich mir fest vorgenommen hatte, nicht an sie zu denken. Kirby, die in einem Kinderkörbchen liegt. Kirby, die krabbeln, laufen, sprechen lernt. Kirby, die an ihrem ersten Kindergartentag in den groÃen gelben Schulbus klettert. Kirby, die ihren ersten Zahn verliert. Kirby, die am Weihnachtsmorgen im roten Flanellnachthemd nach unten rennt und ein Barbie-Traumhaus unter dem Baum entdeckt. Wenigstens wünsche ich mir, dass ihr Leben so verlaufen ist und nicht so, wie ich es mir in meinen von Schuldgefühlen geprägten Albträumen ausgemalt habe. Kirby, die hungert, friert, einsam ist, geschlagen wird. Ich schaue sie an und bin sehr erleichtert, dass es ihr gut geht. Wenigstens hat es den Anschein.
»Erzähl mir mehr über dich. Erzähl mir alles«, bitte ich.
Sie verschränkt die Arme vor der Brust und fragt: »Was willst du denn wissen?«
»Tut mir leid. Ich will dich nicht ausfragen.«
»Schon okay«, sagt sie, ohne allerdings irgendwelche Informationen preiszugeben.
»Ich weià also, wie alt du bist. Achtzehn.«
Sie nickt ausdruckslos. »Ja. Erst mit achtzehn konnte ich deinen Namen erfahren.«
Ich denke an den Vertrag, den ich unterschrieben habe â und an meine falsche eidesstattliche Versicherung: Ich kenne den Kindsvater nicht . Dann schiebe ich den Gedanken an ihn beiseite, wie schon tausendmal zuvor und ein Dutzend Mal allein heute Abend.
»Du bist also im letzten Schuljahr?«, frage ich.
Sie nickt.
»Gehst du nächstes Jahr aufs College?«
»Weià nicht. Ich hab gerade die Zulassung für Missouri gekriegt. Letzte Woche.« Sie zuckt mit den Schultern und sieht aus dem Fenster, hinunter auf die im Dunkeln liegende Madison Avenue. »Aber eigentlich will ich nicht aufs College.«
Ihre Antwort enttäuscht mich, aber ich lasse mir nichts anmerken. »Du kannst doch ein Jahr pausieren und über alles nachdenken«, schlage ich vor. »So habe ich das damals gemacht.«
Sie wirft mir einen komischen Blick zu. Sicher macht sie sich ihre eigenen Gedanken darüber, was ich in diesem Jahr so angestellt habe, aber sie sagt nichts dazu. Dann räuspert sie sich: »Du fragst dich bestimmt, warum ich hier bin â¦Â«
Automatisch greife ich nach ihrer Hand. Ihre Finger sind kalt, schlank, zart. An ihrem Mittelfinger steckt ein riesiger Ring mit einem Türkis. Nervös spannt sie die Hand an, zieht sie aber nicht zurück. Ich lege meine Hand wieder in den SchoÃ. »Du musst dich nicht rechtfertigen«, sage ich.
Sie zieht ein Gesicht, das ich nicht deuten kann, und stammelt: »Ich ⦠musste dich einfach sehen ⦠ich hatte immer ⦠das Gefühl, dass mir was fehlt ⦠weiÃt du ⦠weil ich nicht wusste ⦠woher ich stamme und so â¦Â«
Reflexartig will ich einstimmen und ihr erklären, dass auch ich eine Leere gefühlt habe, aber das ist nicht wahr. Erst vor ein paar Stunden dachte ich, das Einzige, was in meinem Leben fehlt, ist ein Heiratsantrag von Peter.
»Ich bin froh, dass du da bist«, sage ich stattdessen, obwohl ich spüre, dass das übertrieben,
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