Wo die Liebe beginnt
wie um zu protestieren, schlieÃt ihn dann aber wieder, als wäre sie zu müde dazu.
»Noch eine Frage«, sage ich und mache mich schon auf alles gefasst.
Sie zieht die Brauen hoch, während ich mich räuspere und sie frage, ob ihre Eltern wissen, dass sie hier ist.
Sie starrt in ihr Glas, also ein klares Nein.
»Lebst du noch bei ihnen?«
Sie nickt und wirkt leicht gereizt. »Ich bin nicht weggelaufen, wenn du das meinst.«
»Tut mir leid. Ich habe mich bloà gefragt â¦Â«
»Sie glauben, ich wäre in Alabama. Mit meiner Freundin und ihrer Mutter.«
»Dann wissen sie also nicht, dass du ⦠das hier geplant hast?«
»Das hier?«, wiederholt sie mit einer Spur von Feindseligkeit in der Stimme, obwohl sie weiÃ, worauf ich anspiele.
»Mich zu sehen«, präzisiere ich.
Jetzt schaltet sie auf Trotz um und schüttelt den Kopf. Ich warte darauf, dass sie meinem Blick begegnet. Wir sind an einem kritischen Punkt angelangt. Ich weiÃ, was ich tun müsste, nämlich darauf bestehen, dass sie zu Hause anruft, aber ich habe Angst davor. Was, wenn sie wütend wird? Wenn sie wegrennt und nie wiederkommt? Andererseits ist sie ein Teenager, Tausende von Kilometern von ihren Eltern entfernt. Ich frage sie, warum sie sie angelogen hat. Ich will mich in sie hineinversetzen, bevor ich eine Entscheidung treffe oder ihr Verhalten bewerte.
»Das geht die nichts an«, erklärt sie. »Und offen gesagt, gehen sie dich auch nichts an.«
»Okay ⦠hör zu ⦠Ich werde dich zu nichts zwingen, aber â¦Â«
»Aber was«, bellt sie mit flackernden Augen und stur angespanntem Kinn. Ich weiÃ, dass ich nicht ihre wahre Mutter bin, aber jetzt bekomme ich eine Ahnung davon, wie man sich als Mutter fühlt. Angst und Unsicherheit machen sich in mir breit. »Es gibt keinen Grund, sie anzurufen und die Pferde scheu zu machen. AuÃerdem bin ich achtzehn und damit erwachsen. Alles in Ordnung also.«
Ich nicke. Ich will sie nicht unter Druck setzen und das zerstören, was wir uns in den letzten paar Minuten aufgebaut haben. »Okay. Wir können morgen darüber reden. Ich ⦠ich will einfach nur, dass es dir gut geht. Egal, was in deinem Leben gerade vorgeht, was in dir vorgeht ⦠ich möchte dir helfen.«
Ich meine genau das, was ich sage â das glaube ich jedenfalls â, aber meine Worte klingen dünn. Wie die einer Schauspielerin, die keine emotionale Bindung zu ihrer Szene hat und einen Mentholstift braucht, um weinen zu können.
»Danke«, sagt sie, und wir gähnen wieder synchron. Dann stehen wir auf und schauen uns an.
»Nichts zu danken, Kirby«, gebe ich zurück. Es ist das erste Mal, dass ich ihren Namen laut ausgesprochen habe, und ich frage mich, wie ich ihn die ganze Zeit über nicht gewusst haben kann. Wie konnte ich sie mir jemals als Katherine vorstellen â so hatte ich sie die ersten drei Tage nämlich genannt. Dieser Name wirkt jetzt zu formal, zu traditionell, zu gewöhnlich für das Mädchen, das sie zu sein scheint.
Ich führe sie zurück in den Flur, nehme ihren Rucksack und zeige ihr das Gästezimmer, direkt neben meinem eigenen. Ich zeige ihr auch das angrenzende Badezimmer, den Schrank voller Handtücher und Decken und die Schublade mit den Hotelkosmetika. Dann wünsche ich ihr eine gute Nacht und fordere sie auf, zu mir zu kommen, falls sie etwas braucht. Was auch immer es sein mag.
Vor einer Stunde habe ich eine Schlaftablette geschluckt, und jetzt bin ich noch immer hellwach und aufgedreht. Ich starre in die totale Schwärze meines Schlafzimmers â ein seltenes Phänomen in New York, besonders in Eckhäusern. Ich denke daran, wie ich der Innenarchitektin erklärte, dass es mir egal sei, ob wir warme oder kalte Farben nehmen, ein Polster- oder ein Eisenbett, so lange die Fenster eine Jalousie bekämen, die nicht den kleinsten Lichtstrahl durchlassen. Jetzt allerdings fürchte ich mich zum ersten Mal in meinem Erwachsenenleben vor der Dunkelheit â oder eher in der Dunkelheit. Es ist ein irrationales Gefühl, aber ich drehe mich trotzdem schnell im Bett um, knipse das Licht an und suche jede Ecke im Zimmer mit den Augen ab, so wie früher als Kind. Vielleicht habe ich ja stellvertretend für Kirby Angst? Ich widerstehe der Versuchung, nach ihr zu schauen. Nach achtzehn Jahren vollständiger Ahnungslosigkeit käme mir
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