Wo die Liebe beginnt
vorderen Teil, es sei denn, sie will ihn. Aber wieso lesen wir jetzt Zeitung, wir haben doch gerade mal ein Prozent der Themen besprochen, die mir wichtig sind. Es fehlt zum Beispiel noch, ach ja, wer mein Vater ist, und warum sie mich weggegeben haben. Das sieht sie anscheinend anders, denn sie reicht mir den Vorderteil, als würden wir seit Jahren zusammen die Sonntagszeitung lesen. Als ich die Zeitung entgegennehme, schieÃt eine Frustwelle durch meinen Körper. Ich entscheide mich für einen Artikel über ein Selbstmordattentat in Tel Aviv, kann aber nur daran denken, dass sie mir gerade gegenübersitzt. Es fühlt sich so krass an, und die Stille macht es nicht besser. Ich glaube, sie grübelt auch über uns beide nach, weil sie alle paar Minuten vom Modeteil aufblickt und mich verstohlen mustert. Aber das ist vielleicht nur Wunschdenken. Möglicherweise zieht die Zeitung sie ja völlig in ihren Bann. Weil da was Weltbewegendes drinsteht, zum Beispiel, dass Schlaghosen jetzt wieder in sind.
Nach dem Frühstück schlendern wir einen Block weit zur Fifth Avenue, wo ich zum ersten Mal das Metropolitan Museum of Art sehe. Das Gebäude ist riesig und sieht bedeutsam aus, es reicht mehrere Blocks weit â Marian sagt, einen halben Kilometer. Viele Menschen sitzen auf den Stufen, manche machen Fotos oder lesen in Reiseführern, andere stehen einfach nur da. Es gibt sogar ein Grüppchen von Skatern in meinem Alter. In ihren Hoodies und Cargoshorts hängen sie herum, als wäre das ihr ganz gewöhnlicher Treffpunkt. Das ist schon was anderes als der Francis Park, wo meine Freunde sich treffen â aber die Kleidung ist ziemlich ähnlich, und der gelangweilte Gesichtsausdruck auch.
Sie beobachtet mich, wie ich staune, und sagt: »Beeindruckend, oder?«
Ich bejahe und lasse meine Literaturkenntnisse raushängen â wenn ich mich auch nur auf ein Jugendbuch beziehe. »Ich fand Die heimlichen Museumsgäste von Konigsburg immer toll«, sage ich und versuche, mich an Details zu erinnern. Es ging um ein kleines Mädchen, das von zu Hause wegrennt und sich im Museum versteckt. Claudia hieà sie, glaube ich.
Ihre Augen leuchten auf, und sie erzählt mir, dass sie als Kind das Buch auch geliebt hat.
Dann fügt sie hinzu: »Hast du Zeit der Unschuld von Edith Wharton gelesen?«
Den Namen Edith Wharton habe ich schon mal gehört, aber das Buch habe ich nicht gelesen. Ich habe ja schon seit Jahren keine Bücher mehr zum Vergnügen gelesen, auÃer der Twilight -Serie (die ich mochte, abgesehen von der Tatsache, dass Edwards dauernd als »heië bezeichnet wird â eine echte Schriftstellerin sollte doch wirklich noch anders ausdrücken können, dass der Typ gut aussieht).
»Die beiden Protagonisten treffen sich heimlich an diesem Ort, und dann sagt der Mann: âºEines Tages wird das hier ein groÃes Museum sein⹠⦠Wharton selbst hat sich übrigens sehr um das Museum verdient gemacht.«
Ich bin ganz hin und weg von ihren gebildeten Erläuterungen, auch wenn ich finde, dass sie ziemlich angibt. Oder schlimmer, mich auf die Probe stellt. Wie in diesen Gesprächen bei der College-Zulassung, wenn sie vorgeben, einfach nur locker mit dir plaudern zu wollen und dann total darauf achten, wie klug du antwortest. Oder in meinem Fall, wie dumm.
Wir gehen einen Block nach Norden, dann zeigt Marian auf die andere StraÃenseite, zu einem weiÃen Kalksteingebäude mit grünem Vordach. »Siehst du das Haus? Da ist Jackie O eingezogen, nachdem JFK erschossen wurde. Vierzig Jahre hat sie da drin gewohnt, im vierzehnten Stock.«
Sie erklärt weiter, dass die Wohnung nicht so schick gewesen sei, wie man vielleicht glauben würde. Sie hatte nicht mal eine Klimaanlage. »Aber man hat eine tolle Aussicht auf den Reservoir-See im Central Park und auf den über dreitausend Jahre alten Tempel von Dendur, der dank ihrer Initiative aus Ãgypten hierher überführt wurde.«
Ich nicke und denke daran, was meine Mutter immer über Jackie gesagt hat: dass sie eine Weltklasse-Mutter für John und Caroline war, und das kommt mir gerade viel wichtiger vor als ein alter Tempel. Ich betrachte Marian und frage mich, wann â und ob â sie zum Wesentlichen kommen wird.
Endlich sind wir beim Guggenheim angekommen, einem groÃen, weiÃen Gebäude, das aussieht wie ein ziemlich massives Schneckenhaus
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