Wo die Liebe beginnt
mich unerklärliches Heimweh. Aber dieses Gefühl geht schnell vorbei, und die gewohnte Verbitterung schiebt sich wieder an seine Stelle. Plötzlich brenne ich darauf, ihnen mitzuteilen, wo ich bin.
»Turbo-Kirbo!«, dröhnt mein Dad. Er klingt recht entspannt â vielleicht, weil ich nicht in seiner Nähe bin. »Wie siehtâs aus in Alabama?«
Jetzt redet meine Mutter â und sie hat schon den ersten Vorwurf. »Warum hast du nie zurückgerufen?«
»Ich habe euch doch E-Mails und SMS geschickt«, gebe ich zurück und verdrehe die Augen.
»Du hättest uns wirklich auch anrufen sollen«, beharrt sie.
»Entschuldige«, sage ich und bin erfreut darüber, nicht die Spur schuldbewusst zu klingen.
»Amüsierst du dich gut?«, fragt mein Dad. »Ich habe gesehen, dass in Mobile gestern sechsundzwanzig Grad waren.«
»Ach ja?«, gebe ich zurück. In New York waren es nur ungefähr fünfzehn.
»Ich hoffe, du cremst dich regelmäÃig mit Sonnencreme ein«, mahnt meine Mutter. »Alle paar Stunden, hörst du? Mit deinem hellen Hauttyp, da kriegt man schnell einen Sonnenbrand.«
Ich muss an Marians Teint denken. Jetzt weià ich, wo ich meine helle Haut herhabe, und darum hasse ich sie ein bisschen weniger an mir. Marian sieht jedenfalls gut aus, vielleicht werde ich in Zukunft ja auch so hübsch wie sie sein. Aber worauf warte ich eigentlich? Ich gehe zum Fenster und öffne die Jalousie nur ein paar Zentimeter weit, gerade genug, um einen Blick auf die StraÃe werfen zu können, wo trotz der frühen Stunde bereits heftiger Verkehr herrscht: Autos, Menschenmassen â ganz anders als in unserer ruhigen StraÃe zu Hause.
»Wie gehtâs Charlotte?«, frage ich. Das ist verräterisch, ich erkundige mich sonst nämlich nie nach meiner Schwester. Mein Vater scheint Lunte zu riechen.
»Ihr gehtâs prima. Sie schläft noch. Kirby, was ist los?«
Ich drehe mich um und gehe durchs Zimmer, setze mich aufs Bett und freue mich auf das, was gleich kommt. »Ãhm, Leute ⦠ich bin gar nicht in Mobile mit Belinda und ihrer Mutter«, sage ich und genieÃe die geschockte Stille, die mir entgegenschlägt.
»Wo bist du dann?«, fragen sie im Chor.
»In New York City.« Ich strecke dem Telefon den Mittelfinger hin. Wenn das keine Wiedergutmachung für das ist, was ich neulich mit angehört habe.
»New York City!«, schreit meine Mutter, als hätte ich verkündet, ich sei an der Front in Afghanistan.
»Was machst du in New York?«, fragt mein Vater bemüht sachlich, um der Hysterie meiner Mutter etwas entgegenzusetzen.
»Ist Belinda bei dir?«, will meine Mutter wissen. »Und ihre Mutter?«
»Nein, ich bin alleine hier ⦠na ja, also nicht direkt alleine ⦠ich bin in der Wohnung meiner leiblichen Mutter«, erkläre ich und schlieÃe die Augen. Wie ist es nur möglich, sich gleichzeitig zu schämen und sich diebisch zu freuen?
»Was in aller Welt â¦Â« Die Stimme meiner Mutter erstirbt, und ich sehe sie direkt vor mir, wie sie in den Frisierspiegel starrt, die groÃen rosafarbenen Lockenwickler im Haar, die sie immer erst rausnimmt, wenn sie aus dem Haus geht, manchmal sogar erst im Auto (was meine Schwester und ich total peinlich finden). »Aber warum?«
»Wie, warum?«, blaffe ich sie an. Das ist die dümmste Frage, die ich je gehört habe.
»Warum bist du ⦠dort?«, fragt sie.
»Was glaubst du denn, Mom?«
»Schatz«, meldet sich mein Dad zu Wort, aber ich bin mir nicht ganz sicher, ob er mich meint oder meine Mutter. »Wir verstehen dich. Wir können nachvollziehen, warum du sie treffen wolltest. Aber du hättest es mit uns besprechen sollen. Wir hätten dir geholfen.«
»Ich habe eure Hilfe aber nicht gebraucht«, erwidere ich. Das stimmt ja auch.
»Ich weiÃ. Aber wir hätten dich zumindest gerne ⦠unterstützt.«
»Ja, na klar«, murmele ich.
Meine Mutter atmet schwer. Ich wette meinen iPod, dass sie heult.
»Wie bist du dorthin gekommen?«, will mein Vater wissen.
»Mit dem Greyhound.« Ich denke an den Song »America« von Simon and Garfunkel. Darin besteigt ein Paar den Greyhound in Pittsburgh. Meine Lieblingszeile heiÃt: » Iâm empty and aching and I donât know why«. Irgendwie passt die jetzt auf mich.
»Und?«, fragt meine
Weitere Kostenlose Bücher