Wo die Liebe beginnt
Mutter mit gepresster Stimme (ich hatte also recht). »Magst du sie? Oder ⦠?«
Darum geht es ihr also. Nicht darum, dass ich wissen will, wer ich bin und woher ich komme, sondern darum, dass sie diejenige bleiben will, die mich vor einer selbstsüchtigen Frau gerettet hat. Vor einer Frau, die ihr Baby weggegeben hat.
»Sie ist umwerfend«, sage ich. Ich kann einfach nicht anders.
»Tja, das ist ⦠wunderbar«, schnieft sie. »Das freut mich.«
»Bist du sicher, dass dich das freut?«, frage ich. »Oder hättest du lieber gehört, dass sie furchtbar ist?«
»Kirby!«, ruft mein Vater. »Sei nicht ungerecht.«
»Tut mir leid«, sage ich noch mal. Inzwischen habe ich es schon ganz gut drauf, eine Entschuldigung ohne jede Reue rüberzubringen.
»Wann kommst du wieder nach Hause?«, fragt meine Mutter.
Ich antworte, dass ich es noch nicht weiÃ, wahrscheinlich in ein oder zwei Tagen.
»Am Mittwoch hast du wieder Schule«, bemerkt meine Mutter.
»Ich weiÃ.«
»Dann bist du morgen Abend also wieder zu Hause?«, erkundigt sich mein Vater. Mit Befriedigung registriere ich, dass er keine Forderung, sondern eine Frage stellt. Sie können mich nicht zwingen, nach Hause zu kommen, und das wissen sie.
»Ja, ja«, entgegne ich. »Aber jetzt muss ich los.«
»Wo gehst du denn hin?«, will meine Mutter wissen.
»Sie hat gesagt, ich darf heute mit ihr zur Arbeit gehen. Sie ist eine berühmte Fernsehproduzentin.«
»Welche Sendung produziert sie denn?«, fragt meine Mutter misstrauisch.
»Die kennst du sowieso nicht.« Sie guckt nämlich bloà Soaps, Krimis und â man sollte es nicht glauben â Gute-Laune-Reality-Serien.
»Können wir mit ihr reden?«, bittet mein Dad.
»Nein, sie duscht gerade.«
»Aber wenn sie fertig ist?«
»Ich glaub kaum. Sie hat echt viel zu tun. Ich muss jetzt aufhören.«
»Na gut, Schatz. Ich wünsche dir einen schönen Tag«, schlieÃt mein Vater. »Pass auf dich auf in der groÃen Stadt.«
»Ja, mach ich«, erwidere ich. Warum fühle ich mich jetzt doch ein bisschen schuldig?
»Wir haben dich lieb«, ruft meine Mutter noch, aber ich lege schon auf. Jetzt geht das Geheule bestimmt erst richtig los, und dann folgen melodramatische Gebete bei der Andacht. Für meine sichere Rückkehr. Für meine irregeleitete Seele. Dafür, dass ich die Frau vergesse, die mich aus egoistischen Gründen weggegeben hat.
8 â Marian
»Heute Morgen hab ich meine Eltern angerufen«, verkündet Kirby in der Subway auf dem Weg zur Arbeit. Ich nehme sie mit ins Büro, weil ich nicht weiÃ, was ich sonst mit ihr machen soll. Und ein freier Tag ist nicht drin.
»Hast du ihnen gesagt, wo du bist?«, frage ich, als der Zug quietschend in die Station an der Seventy-seventh Street einfährt und die anderen Leute gegen uns gedrückt werden. Verbissen verteidige ich unseren Platz. Die Luft unter der Erde ist feucht und schwer, wie immer, wenn es regnet, egal zu welcher Jahreszeit.
Kirby nickt, und ihre goldenen Ohrgehänge baumeln heftig. Sie hat sich die Haare in einen Knoten nach hinten gesteckt und sich geschminkt (für meinen Geschmack ist der Eyeliner ein bisschen zu stark ausgefallen). Sie trägt meinen schwarzen Trenchcoat, den ich ihr aufgedrängt habe. So könnte sie glatt als meine Praktikantin durchgehen â jedenfalls hoffe ich, dass die Leute sie dafür halten.
»Und? Wie haben sie reagiert?«, bohre ich nach. Da wird mir der Irrsinn dieser Situation wieder bewusst. Seit sie vor meiner Tür stand, hämmert es alle paar Stunden oder auch Minuten durch meinen Kopf: Sie ist meine Tochter. Ich kann es noch immer kaum fassen.
Kirby, die U-Bahn-Fahren nicht gewohnt ist, verliert die Balance, als der Zug ruckartig anfährt, und braucht einen Moment, bis sie wieder sicher auf ihren dünnen Beinen steht. »Mein Dad ist ganz cool geblieben, aber meine Mom hat sich aufgeregt.«
Ich frage sie, warum. Hoffentlich hat es mit Kirbys Lüge zu tun und nicht mit mir. An ihrem Blick sehe ich aber, dass ich vergebens hoffe.
»Ich glaube, sie ist eifersüchtig auf dich«, erklärt Kirby und betrachtet einen erstaunlich normal aussehenden Mann, der die Passanten zu Jesus und zum Veganismus bekehren will.
»Wir sollten ein Gebot hinzufügen«, sage ich, um von ihrer Mutter abzulenken.
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