Wo die Nacht beginnt
werden.«
Ich war froh, dass Matthews Vater nicht ausführlicher schilderte, wie die beiden geheiratet hatten und wie dabei der Keim für den Trojanischen Krieg gesät wurde. Und ich war noch froher, dass er nicht von Achills Jugend erzählte: von den grässlichen Versuchen seiner Mutter, ihn unsterblich zu machen, und von dem unbeherrschbaren Zorn des Jünglings – der ihm wesentlich mehr Ärger einbrachte als seine berühmte verletzliche Ferse.
»Es ist nur eine Geschichte«, flüsterte Matthew, der mein Unbehagen spürte.
Aber genau solche Geschichten, die man sich seit Urzeiten erzählte und die von Generation zu Generation weitergegeben wurden, ohne dass man um ihre wahre Bedeutung wusste, waren nicht ohne Abgrund, genau wie die uralten, geheiligten Rituale von Ehre, Ehe und Familie.
»Morgen ist ein bedeutsamer Tag, ein Tag, den wir alle lange herbeigesehnt haben.« Philippe erhob sich, die Kithara in den Händen. »Der Brauch will, dass sich Braut und Bräutigam bis zur Hochzeit nicht sehen.«
Das war ein weiteres Ritual: ein letzter förmlicher Akt der Trennung, dem ein Leben in Zweisamkeit folgen sollte.
»Die Braut darf jedoch dem Bräutigam ein Zeichen ihrer Huld überreichen, damit er sie während der einsamen Stunden der Nacht nicht vergisst«, verkündete Philippe mit einem schelmischen Funkeln in den Augen.
Matthew und ich erhoben uns. Den Blick eisern auf sein Wams gerichtet strich ich meinen Rock glatt. Die Stickereien auf dem Stoff waren ungeheuer fein gearbeitet, fiel mir auf, winzig und regelmäßig. Sanfte Finger hoben mein Kinn an, und wieder einmal verlor ich mich in dem Spiel sanfter Kurven und scharfer Winkel, aus denen sich Matthews Gesicht zusammensetzte. Alle Bemühungen, unseren Gästen etwas vorzuspielen, waren vergessen, sobald wir uns in die Augen sahen. Wir standen in der Mitte des Saals, umgeben von unseren Hochzeitsgästen, doch unser Kuss versetzte uns wie mit einem Zauberspruch in eine Welt, in der es nur noch uns beide gab.
»Wir sehen uns morgen Nachmittag«, murmelte Matthew gegen meine Lippen, als wir uns voneinander lösten.
»Ich bin die unter dem Schleier.« Im 16. Jahrhundert wurde er zwar sehr selten getragen, aber er war ein uralter Brauch, und Philippe bestand darauf, dass keine seiner Töchter unverschleiert vor den Altar trat.
»Ich würde dich jederzeit erkennen«, versicherte er mir und ließ ein Lächeln aufblitzen. »Ob mit oder ohne Schleier.«
Matthews Blick lag fest und ohne zu blinzeln, auf mir, als Alain mich aus dem Raum führte. Noch lange nachdem ich den Saal verlassen hatte, spürte ich ihn kühl auf meinem Rücken.
Am nächsten Tag waren Catrine und Jehanne so leise, dass ich die üblichen morgendlichen Arbeiten verschlief. Die Sonne stand schon hoch am Himmel, als sie die Vorhänge um mein Bett zurückzogen und verkündeten, dass es Zeit für mein Bad sei.
Eine Prozession von Frauen zog mit mächtigen Krügen durch meine Kammer und füllte unter aufgeregtem Geschwätz eine riesige Kupferwanne, die vermutlich sonst dazu verwendet wurde, Wein oder Cidre herzustellen. Aber weil das Wasser angenehm heiß war und das Kupfer die Wärme hervorragend speicherte, wollte ich mich nicht beschweren. Mit einem genussvollen Stöhnen tauchte ich unter.
Die Frauen ließen mich einweichen, und mir fiel auf, dass meine wenigen Habseligkeiten – Bücher, meine Notizen über Alchemie und okzitanische Redewendungen – verschwunden waren. Genau wie übrigens die lange, niedrige Truhe, in der meine Kleider aufbewahrt wurden. Als ich Catrine danach fragte, erklärte sie mir, dass alles in die Gemächer von Milord am anderen Ende der Burg gebracht worden sei.
Ich war nicht länger Philippes Adoptivtochter, sondern Matthews Frau. Dementsprechend war mein Besitz umgelagert worden.
Bis die Uhr eins schlug, hatten mich Catrine und Jehanne pflichtbewusst aus der Wanne geholt und abgetrocknet. Ihre Arbeit wurde von Marie, der besten Näherin in Saint-Lucien, beaufsichtigt, die auf die Burg gekommen war, um letzte Hand an ihr Werk zu liegen. Welchen Beitrag der Dorfschneider Monsieur Beaufils zu meinem Hochzeitskleid geleistet hatte, wurde mit keinem Wort erwähnt.
Um Marie gerecht zu werden, La Robe (im Geist verwendete ich ausschließlich die französische Bezeichnung für mein Kleid) war spektakulär. Wie Marie es geschafft hatte, so etwas in so kurzer Zeit fertigzustellen, blieb ihr Geheimnis, obwohl ich den Verdacht hatte, dass jede Frau im weiteren Umkreis
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