Wo die Nacht beginnt
nicht recht von dem Plan überzeugt. Dann seufzte er. »Es ist schon zu lange her, seit ich sie gesehen habe. Sagt Mary, dass wir sie morgen aufsuchen werden.«
Meine ursprüngliche Hemmung, Mary Sidney kennenzulernen, verlor sich zusehends, je näher unsere Begegnung rückte, dafür wuchs meine Aufregung beinahe stündlich.
Auch Françoise war wegen des geplanten Besuchs ganz aus dem Häuschen und nestelte stundenlang an meinen Kleidern herum. Sie nähte eine besonders steife Krause um den hohen Halsausschnitt einer schwarzen Samtjacke, die Maria mir in Frankreich gefertigt hatte. Außerdem reinigte und plättete sie das rostbraune Kleid mit den schwarzen Samtbändern, das mir so gut stand und ausgezeichnet zu der schwarzen Samtjacke passte. Nachdem ich angezogen war, erklärte mich Françoise für vorzeigbar, wenn auch für ihren Geschmack zu streng und deutsch aussehend.
Mittags schlang ich nur eine Schüssel Eintopf mit Hasenfleisch und Gerste hinunter, damit wir früher loskonnten. Matthew nippte in aller Seelenruhe an seinem Wein und befragte mich auf Lateinisch über meinen Vormittag. Aus seinem Gesicht leuchtete die Schadenfreude.
»Wenn du mich wütend machen willst, dann hast du damit Erfolg!«, erklärte ich ihm nach einer besonders verwickelten Frage.
» Refero mihi in latine, quaeso«, antwortete Matthew oberlehrerhaft. Als ich ein Brotstück nach ihm warf, duckte er sich lachend darunter weg.
Henry Percy erschien gerade im richtigen Moment, um das fliegende Brot mit einer Hand aufzufangen. Er legte es kommentarlos auf den Tisch zurück, lächelte heiter und fragte, ob wir fertig seien.
Pierre tauchte geräuschlos aus dem Schatten neben der Tür zum Schuhladen auf und marschierte mit misstrauischer Miene los, die Rechte fest um den Griff seines Dolches geschlossen. Als Matthew uns in Richtung Stadt lenkte, sah ich auf. Dort stand St. Paul’s.
»Mit dem Ungetüm in der Nähe kann man sich eigentlich kaum verlaufen«, murmelte ich.
Während wir langsam auf die Kathedrale zugingen, gewöhnten sich meine Sinne an das Chaos, und ich konnte verstärkt einzelne Geräusche und Gerüche herausfiltern. Frisch gebackenes Brot. Kohlefeuer. Holzrauch. Fermentation. Vom gestrigen Regen gewaschener Müll. Nasse Wolle. Ich holte tief Luft und merkte mir in Gedanken vor, meinen Studenten nicht mehr zu erzählen, dass es einem Zeitreisenden bei der Landung in der Vergangenheit den Atem verschlagen würde. Offenbar stimmte das nicht, wenigstens nicht im tiefen Winter.
Männer und Frauen sahen mit unverhohlener Neugier von ihrer Arbeit auf, wenn wir vorbeikamen, und senkten respektvoll das Haupt, sobald sie Matthew und Henry erkannten. Wir gingen erst an einer Druckerei vorbei, dann an dem Laden eines Barbiers und passierten schließlich eine geschäftige Werkstatt, in der dem Lärm und der Hitze nach zu urteilen mit Edelmetallen gearbeitet wurde.
Je weniger fremd ich mich fühlte, desto besser konnte ich mich darauf konzentrieren, was die Menschen sagten, welche Kleidung sie trugen und wie sie aussahen. Matthew hatte mir erklärt, dass in unserer Gegend viele Ausländer wohnten, aber für mich klang das Gewirr an Sprachen geradezu babylonisch. Ich drehte den Kopf. »Was spricht sie?«, flüsterte ich mit einem Blick auf eine füllige Frau in einer dunkelblau-grünen Jacke mit Pelzbesatz. Die Jacke ähnelte meiner, fiel mir auf.
»Einen deutschen Dialekt«, antwortete Matthew und senkte dabei den Kopf auf meine Höhe, damit ich ihn über dem Straßenlärm verstand.
Wir durchschritten den Bogen eines alten Torhauses. Die Gasse öffnete sich zu einer Straße, auf der wider alle Wahrscheinlichkeit ein Großteil der Pflasterung erhalten geblieben war. Rechts von uns erstreckte sich ein mehrstöckiges Gebäude, in dem lebhaftes Treiben herrschte.
»Das frühere Dominikanerkloster«, erklärte Matthew. »Nachdem König Heinrich die Priester vertrieben hatte, stand es leer und drohte zu verfallen, wurde dann jedoch in ein Wohnhaus umgewandelt. Niemand weiß, wie viele Menschen inzwischen hier leben.« Er sah über den Hof, wo sich eine windschiefe Fachwerkmauer von diesem Haus zur Rückwand des nächsten Gebäudes zog. In nur einer Angel hing eine klapprige Tür.
Matthew sah zu St. Paul’s auf und dann mich an. Seine Miene wurde weich. »Zum Teufel mit meinen Bedenken. Komm mit.«
Er führte mich durch eine Lücke zwischen einem noch erhaltenen Abschnitt der alten Stadtmauer und einem mehrstöckigen Haus, das
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