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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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aussah, als würde es gleich vornüber auf die Passanten kippen. Durch den schmalen Durchlass kam man überhaupt nur, weil alle hier in dieselbe Richtung wollten: nach oben, nach Norden, nach draußen. Die Menschenwoge trug uns in die nächste Straße, die deutlich breiter war als die Water Lane. Der Lärm nahm zu, das Gedränge auch.
    »Du hast gesagt, über die Feiertage wäre die Stadt praktisch menschenleer«, bemerkte ich.
    »Das ist sie auch«, erwiderte Matthew. Nach ein paar Schritten wurden wir in einen noch größeren Strudel gezogen. Ich blieb wie angewurzelt stehen.
    Die Fenster von St. Paul’s glommen im bleichen Nachmittagslicht. Auf dem Platz rund um die Kirche drängten sich die Menschen – Männer, Frauen, Kinder, Lehrlinge, Dienstboten, Priester, Soldaten. Wer nicht selbst brüllte, lauschte einem der Brüllenden, und wohin man auch blickte, sah man Papier. Es hing an Schnüren über den Bücherständen, war an jede feste Oberfläche genagelt und wurde, zu Büchern gebunden, den Neugierigen ins Gesicht gestreckt. Eine Gruppe junger Männer hatte sich um einen Pfosten versammelt, der mit im Wind flatternden Notizen tapeziert war, und hörte einem aus der Runde zu, der langsam und laut Stellenangebote verlas. Ab und an löste sich einer aus der Menge, zog die Kappe ab und machte sich unter dem aufmunternden Schulterklopfen seiner Kameraden auf die Arbeitssuche.
    »O Matthew.« Mehr brachte ich nicht heraus.
    Die Menschen schoben sich an uns vorbei, wichen dabei aber sorgsam den Spitzen der langen Schwerter aus, die unsere Begleiter trugen. Eine Brise verfing sich in meiner Kapuze. Ich spürte ein Kribbeln, gefolgt von einem weichen Druck. Irgendwo in dem Treiben auf dem ehemaligen Kirchhof hatten eine Hexe und ein Dämon unsere Anwesenheit erspürt. Eine Gruppe aus drei nichtmenschlichen Wesen und einem Adligen war kaum zu übersehen.
    »Jemand ist auf uns aufmerksam geworden«, sagte ich. Matthew ließ den Blick über die Menge schweifen, wirkte aber nicht übermäßig besorgt. »Jemand wie ich. Jemand wie Kit. Nicht jemand wie du.«
    »Noch nicht«, kommentierte er halb laut. »Du darfst hier nie allein herkommen, Diana – auf keinen Fall. Du musst in Blackfriars bleiben, bei Françoise. Wenn du weiter als bis zu diesem Durchgang gehen willst« – Matthew nickte nach hinten –, »dann müssen Pierre oder ich dich begleiten.« Als er sich überzeugt hatte, dass ich mir seine Warnung zu Herzen nehmen würde, zog er mich weiter. »Komm, wir gehen zu Mary.«
    Wir wandten uns wieder nach Süden, dem Fluss zu, und der Wind drückte die Röcke gegen meine Beine. Wir gingen zwar hügelabwärts, trotzdem mussten wir uns jeden Schritt erkämpfen. Als wir an einer der vielen Kirchen Londons vorbeikamen, war ein leises Pfeifen zu hören, und Pierre verschwand zwischen zwei Häusern. Wenig später tauchte er aus einer anderen Gasse wieder auf, und im selben Moment erspähte ich hinter einer Mauer ein vertraut aussehendes Gebäude.
    »Das ist unser Haus!«
    Matthew nickte und lenkte meine Aufmerksamkeit auf ein anderes Gebäude weiter unten an der Straße. »Und das da ist Baynard’s Castle.«
    Das Schloss war, abgesehen vom Tower, St. Paul’s Cathedral und der in der Ferne aufragenden Westminster Abbey das größte Gebäude, das ich bislang in London gesehen hatte. Drei von Zinnen gekrönte Türme erhoben sich über dem Fluss, von Mauern verbunden, die leicht doppelt so hoch waren wie die Häuser rundum.
    »Baynard’s Castle steht mit der Front zum Fluss, Diana«, erläuterte Henry bedauernd, während wir uns durch die nächste Gasse schlängelten. »Dies ist der Hintereingang, der eigentlich nicht für Besucher gedacht ist – aber an einem Tag wie diesem ist es hier deutlich wärmer.«
    Wir traten in ein eindrucksvolles Torhaus. Zwei Männer in dunkelgrauen Uniformen mit braunen, schwarzen und goldenen Dienstabzeichen kamen auf uns zu. Der eine erkannte Henry und zupfte seinen Begleiter am Ärmel, bevor der uns Fragen stellen konnte.
    »Lord Northumberland!«
    »Wir möchten die Gräfin besuchen.« Henry schwang seinen Umhang in Richtung des Wachpostens. »Seht zu, ob Ihr den trocken bekommt. Und seid so gut, Master Roydons Gefolgsmann etwas Heißes zu trinken zu geben.« Der Earl ließ die Finger in den Lederhandschuhen knacken und verzog das Gesicht.
    »Natürlich, Mylord«, sagte der Wachposten und musterte Pierre misstrauisch.
    Die Burg war um zwei riesige Plätze herum angeordnet, in deren Mitte

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