Wo die Nacht beginnt
»Erinnert ihr euch noch an unser Gespräch über Giordano Brunos Idee einer unendlichen Anzahl von Welten, die weder durch Zeit noch Raum eingeschränkt werden?«
Die Männer sahen einander an.
»Ich weiß nicht recht«, setzte Henry vorsichtig an, »ob wir verstehen, was Ihr damit sagen wollt.«
»Diana stammt wirklich aus der Neuen Welt.« Matthew hielt inne und gab Marlowe damit Gelegenheit, die anderen der Reihe nach triumphierend anzusehen. »Aus der Neuen Welt der Zukunft.«
Schlagartig wurde es still, und alle Augen richteten sich auf mich.
»Sie hat gesagt, sie stamme aus Cambridge«, erklärte Walter verständnislos.
»Nicht aus diesem Cambridge. Mein Cambridge liegt in Massachusetts.« Meine Stimme klang brüchig. Ich räusperte mich. »Diese Kolonie wird in vierzig Jahren nördlich von Roanoke gegründet werden.«
Daraufhin erhob sich ein allgemeiner Tumult, und ich wurde von allen Seiten mit Fragen bombardiert. Harriot beugte sich vor und berührte zaghaft meine Schulter. Als sein Finger auf festes Fleisch stieß, richtete er sich verwundert auf.
»Ich habe von Wesen gehört, welche die Zeit ihrem Willen beugen können. Dies ist ein Tag des Wunders, nicht wahr, Kit? Hättet Ihr je geglaubt, dass Ihr eines Tages eine Zeitspinnerin kennenlernen würdet? Wir müssen uns in ihrer Anwesenheit in Acht nehmen, sonst könnten wir uns in ihrem Netz verheddern und darin verlorengehen.« Harriot klang fast sehnsüchtig, so als würde er ersehnen, in eine andere Welt verschlagen zu werden.
»Und was bringt Euch zu uns, Mistress Roydon?« Walters dröhnende Stimme durchschnitt das allgemeine Durcheinander.
»Dianas Vater war Gelehrter«, kam Matthew mir zuvor. Interessiertes Gemurmel kam auf, das Walter sofort mit einer erhobenen Hand zum Verstummen brachte. »Ihre Mutter auch. Beide waren Hexen und starben unter mysteriösen Umständen.«
»Dann ist das etwas, das uns beiden gemein ist, D-D-Diana«, erklärte Henry schaudernd. Bevor ich den Earl fragen konnte, wie er das meinte, gab Walter Matthew ein Zeichen fortzufahren.
»Daraufhin wurde … versäumt, sie in der Hexerei zu unterweisen«, fuhr Matthew fort.
»Eine solche Hexe fällt schnell anderen zum Opfer.« Tom runzelte die Stirn. »Warum wird in dieser Neuen Welt einem Wesen wie Euch nicht mehr Fürsorge zuteil?«
»Meine Magie hat mir nie viel bedeutet, genau wie die Familiengeschichte, mit der sie zusammenhängt. Ihr versteht vielleicht, wie es ist, die Grenzen seiner Abstammung überschreiten zu wollen.« Ich sah Kit an, den Schuhmachersohn, weil ich auf Zustimmung oder sogar Mitgefühl hoffte, aber er wandte sich ab.
»Absichtliche Unwissenheit ist eine unverzeihliche Sünde.« Kit nestelte an einem roten Seidenfetzen herum, der aus einem der gezackten Schlitze in seinem schwarzen Wams ragte.
»Genau wie Treulosigkeit«, sagte Walter. »Sprecht weiter, Matthew.«
»Diana mag nicht in den Hexenkünsten unterwiesen worden sein, aber sie ist keinesfalls unwissend. Auch sie ist eine Gelehrte«, verkündete Matthew den anderen stolz. »Ihre Leidenschaft ist die Alchemie.«
»Alchemistenweiber sind nichts als Küchenphilosophinnen«, schniefte Kit, »denen mehr daran liegt, ihr Antlitz zu verschönern, als die Geheimnisse der Natur zu begreifen.«
»Ich betreibe meine alchemistischen Studien in der Bibliothek – nicht in der Küche«, fuhr ich ihn an und vergaß dabei völlig, meinen Tonfall oder Akzent anzupassen. Kit sah mich mit großen Augen an. »Und ich gebe meine Erkenntnisse an einer Universität weiter.«
»Man wird Frauen an den Universitäten lehren lassen?«, fragte George gleichzeitig fasziniert und empört.
»Und man wird sie dort unterrichten«, ergänzte Matthew und zupfte dabei wie zur Entschuldigung an seiner Nasenspitze. »Diana studierte in Oxford.«
»Da waren die Vorlesungen gewiss gut besucht«, kommentierte Walter trocken. »Wären in Oriel Frauen erlaubt gewesen, hätte ich damals möglicherweise ein weiteres Studium aufgenommen. Und in dieser zukünftigen Kolonie nördlich von Roanoke werden die gelehrten Ladys angegriffen?« Nach dem, was Matthew bisher erzählt hatte, lag dieser Schluss nahe.
»Nicht alle, nein. Aber Diana entdeckte in der Bibliothek ein verlorengegangenes Werk.« Die Mitglieder der Schule der Nacht beugten sich neugierig vor. Verlorene Bücher waren für diese Männer wesentlich interessanter als unerfahrene Hexen oder weibliche Gelehrte. »Es enthält geheimes Wissen über die Welt der
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