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Wo die Nacht beginnt

Wo die Nacht beginnt

Titel: Wo die Nacht beginnt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Deborah Harkness
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gehöre ihm aber nicht«, widersprach ich knapp.
    »Wir beide wissen, was das Gesetz besagt und was Matthew empfindet, sind völlig verschiedene Dinge.«
    »Das sollten sie aber nicht sein«, erwiderte ich, sofort bereit, meinen Standpunkt zu untermauern. Mary brachte mich mit einem netten, resignierten Lächeln zum Schweigen.
    »Wir beide haben mit unseren Männern ein besseres Los gezogen als viele andere Frauen, Diana. Gott sei Dank haben wir unsere Bücher und genug Zeit, um uns unseren Leidenschaften zu widmen. Das haben die wenigsten.« Mary rührte die Mixtur in ihrem Becher ein letztes Mal um und schüttete den Inhalt in ein anderes Glasgefäß.
    Ich dachte an Annie: eine Mutter, die allein und verlassen in einer Kirchengruft gestorben war, eine Tante, die sie wegen der Vorurteile ihres Mannes nicht in ihrem Haus aufnehmen konnte, ein Leben, das kaum Trost oder Hoffnung versprach. »Bringt Ihr Euren Dienstmägden das Lesen bei?«
    »Gewiss«, antwortete Mary, ohne zu zögern. »Sie lernen auch zu schreiben und zu rechnen. Solche Fähigkeiten erhöhen ihre Aussichten, später einen anständigen Gemahl zu finden – einen, der genauso gern Geld verdient, wie er ausgibt.« Sie winkte Joan herbei, die ihr half, die zerbrechliche Glaskugel mit den Chemikalien auf das Feuer zu stellen.
    »Dann soll Annie das auch lernen«, sagte ich und nickte dem Mädchen zu. Annie stand abwartend im Schatten und sah mit ihrem bleichen Gesicht und dem silberblonden Haar aus wie ein Gespenst. Durch die Schulbildung würde sie selbstbewusster werden. Seit sie mit Monsieur de Laune um den Preis seines Siegelwachses gefeilscht hatte, hatte ihr Gang eindeutig etwas Beschwingtes.
    »Sie wird es Euch später danken«, sagte Mary. Sie meinte es ernst. »Wirklich besitzen können wir Frauen nur das, was wir zwischen unseren Ohren tragen. Unsere Tugend gehört erst unserem Vater und dann unserem Gemahl. Unser Leben widmen wir unserer Familie. Sobald wir eine Nadel einfädeln, gehört alles, was wir tun oder unternehmen, jemand anderem. Solange Annie ihre Sprache hat und Ideen, wird sie immer etwas besitzen, das ganz allein ihr gehört.«
    »Wenn Ihr nur ein Mann wärt, Mary«, erklärte ich kopfschüttelnd. Die Countess of Pembroke konnte die meisten Menschen und anderen Kreaturen, egal welchen Geschlechts, in die Tasche stecken.
    »Wäre ich ein Mann, müsste ich jetzt meine Landgüter beaufsichtigen, oder ich würde wie Henry Ihrer Majestät den Hof machen oder mich wie Matthew um Staatsangelegenheiten kümmern. Stattdessen stehe ich mit Euch in meinem Labor. Werfe ich all das in die Waagschale, glaube ich, dass wir doch das bessere Los gezogen haben – selbst wenn man uns abwechselnd auf ein Podest hebt und im nächsten Moment mit einem Küchenhocker verwechselt.« Marys runde Augen funkelten.
    Ich lachte. »Vielleicht habt Ihr recht.«
    »Wärt Ihr je bei Hofe gewesen, würdet Ihr mir zweifelsfrei zustimmen. Kommt«, sagte Mary und widmete sich wieder ihrem Experiment. »Jetzt warten wir ab, während die prima materia der Hitze ausgesetzt wird. Wenn wir alles richtig gemacht haben, werden wir dadurch den Stein der Weisen erschaffen. Für den Fall, dass das Experiment erfolgreich ist, sollten wir schon jetzt die nächsten Schritte des Prozesses durchsprechen.«
    Ich vergaß fast immer die Zeit, wenn ich mich mit Alchemie beschäftigte, und so blickte ich benommen auf, als Matthew und Henry ins Labor spaziert kamen. Mary und ich waren in ein leidenschaftliches Gespräch über die Bilder in einer Sammlung alchemistischer Texte vertieft, die als Pretiosa Margarita Novella bekannt waren – die kostbare neue Perle. War es wirklich schon später Nachmittag?
    »Es kann unmöglich schon Zeit sein zu gehen. Noch nicht«, protestierte ich. »Mary hat dieses Manuskript …«
    »Matthew kennt es, schließlich hat sein Bruder es mir geschenkt. Allerdings bereut Matthew das inzwischen womöglich, nachdem er jetzt eine gebildete Frau hat«, unterbrach Mary mich lachend. »Im Empfangszimmer warten Erfrischungen. Ich hatte gehofft, Euch beide heute zu sehen.« Daraufhin zwinkerte Henry ihr verschwörerisch zu.
    »Ihr seid zu gütig, Mary«, sagte Matthew und gab mir einen Begrüßungskuss auf die Wange. »Offenbar habt ihr beide noch nicht das Essigstadium erreicht. Ihr riecht immer noch nach Vitriol und Magnesium.«
    Widerwillig legte ich das Buch nieder und wusch meine Hände, während Mary schnell niederschrieb, was wir heute versucht hatten.

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