Wo die Nacht beginnt
zu. »Mit etwas Glück kommst du nach deinem Vater.« Mein Magen schlug einen Purzelbaum. Nervosität und ein veränderter Hormonhaushalt spielten der Verdauung böse Streiche.
Ob Hühner wohl unter morgendlicher Übelkeit litten? Ich legte den Kopf schief und sah das Ei an. Irgendeiner armen Henne hatte man ihr ungeschlüpftes Küken weggenommen, damit es den Normans als Nahrung dienen sollte. Mir wurde noch übler. Vielleicht sollte ich Vegetarierin werden, wenigstens während der Schwangerschaft.
Aber vielleicht war ja gar kein Küken im Ei, tröstete ich mich. Nicht jedes Ei war befruchtet. Mein drittes Auge spähte unter die Schale und durch die immer dichteren Eiweißschichten bis zum Dotter. Spuren von Leben liefen in dünnen roten Strahlen über die Oberfläche des Dotters.
»Befruchtet«, stellte ich seufzend fest. Ich rutschte auf meinen Händen hin und her. Em und Sarah hatten ein paar Jahre lang Hennen gehalten. Eine Henne brauchte nur drei Wochen, um ein Ei auszubrüten. Drei Wochen Wärme und Fürsorge, und schon kam ein Küken zur Welt. Eigentlich war es ungerecht, dass ich monatelang warten musste, bis unser Kind das Licht der Welt erblicken würde.
Fürsorge und Wärme. So einfache Bedingungen, und doch schufen sie Leben. Was hatte Matthew gesagt? Kinder brauchen nur Liebe, einen Erwachsenen, der sich für sie verantwortlich fühlt, und einen weichen Platz zum Landen. Das traf auch auf Küken zu. Ich stellte mir vor, wie es wohl sein mochte, im warmen Gefieder einer Henne zu hocken, geschützt vor Schaden und Gefahr. Ob unser Kind wohl das Gleiche empfand, während es in den Tiefen meines Unterleibs schwebte? Falls nicht, gab es dann einen Zauberspruch dagegen? Einen Spruch, aus Verantwortungsgefühl gewebt, der das Baby in Fürsorge und Wärme und Liebe packte, der aber dabei so zart war, dass er dem Ungeborenen gleichzeitig Sicherheit und Freiheit gab?
»Das ist mein wahrer Wunsch«, flüsterte ich.
Pieps.
Ich sah mich um. In vielen Häusern pickten ein paar Hühner rund um den Herd herum.
Pieps. Es kam aus dem Ei auf dem Tisch. Etwas knackste, dann sah ich einen Schnabel. Aus einem gefiederten, noch glitschigen Kopf blinzelten mich verwundert zwei schwarze Augen an.
Hinter mir schnappte jemand nach Luft. Ich drehte mich um. Annie starrte, die Hand vor den Mund geschlagen, auf das Küken.
»Tante Susanna«, sagte Annie und ließ die Hand sinken. »Ist das …?« Sie verstummte und deutete wortlos auf mich.
»Ja, das ist der Glaem , der nach Mistress Roydons Zauberspruch verblieben ist. Hol Goody Alsop.« Susanna drehte ihre Nichte zur Tür und schickte sie wieder hinaus.
»Ich habe das Ei nicht in die Schüssel bekommen«, entschuldigte ich mich. »Die Formeln haben nicht gewirkt.«
Das noch nasse Küken begann mit leisem Piepsen zu protestieren.
»Nicht gewirkt? Allmählich glaube ich, dass Ihr nicht das Geringste von Hexerei versteht«, kommentierte Susanna ungläubig.
Und ich begann allmählich zu glauben, dass sie recht hatte.
20
A n diesem Dienstagabend fand Phoebe die Stille in den Büros von Sotheby’s gespenstisch. Obwohl sie jetzt schon zwei Wochen in dem Londoner Auktionshaus an der Bond Street arbeitete, hatte sie sich noch nicht an das Gebäude gewöhnt. Jedes Geräusch – das Summen der Neonröhren, das Rütteln der Nachtwächter an den Türen, um sich zu überzeugen, dass sie verschlossen waren, das Fernsehgelächter in der Ferne – ließ sie zusammenschrecken.
Als jüngster Angestellter in der Abteilung war es Phoebe zugefallen, auf Dr. Whitmore zu warten. Sylvia, ihre Vorgesetzte, hatte größten Wert darauf gelegt, dass jemand den Mann auch nach Geschäftsschluss empfing. Phoebe hatte das Gefühl, dass so etwas praktisch nie verlangt wurde, aber da sie neu in ihrem Job war, hatte sie nur schwach protestiert.
»Natürlich werden Sie auf ihn warten. Um sieben kommt er«, hatte Sylvia nur gesagt und, die Perlenkette um einen Finger gewickelt, mit der anderen Hand die Ballettkarten vom Schreibtisch genommen. »Sie haben doch nichts anderes vor, oder?«
Sylvia hatte recht. Phoebe hatte tatsächlich nichts vor.
»Aber wer ist er?«, fragte sie. Das war eine durchaus berechtigte Frage, trotzdem hatte Sylvia sie entrüstet angesehen.
»Er kommt aus Oxford und ist ein wichtiger Kunde. Mehr brauchen Sie nicht zu wissen«, erwiderte Sylvia. »Sotheby’s legt großen Wert auf Diskretion, oder haben Sie diesen Teil Ihrer Ausbildung versäumt?«
Und so saß Phoebe
Weitere Kostenlose Bücher