Wo die Nacht beginnt
Abraham neidisch.
»Und ich wünschte, ich könnte sie zur Ruhe bringen, indem ich ihr ein Stück Papier unter die Zunge schiebe!«, gab ich zurück.
Sekunden später spürte ich etwas wie Eis in meinem Rücken.
»Wer ist das?«, fragte eine tiefe Stimme.
Der Neuankömmling war weder groß noch besonders einschüchternd – aber er war ein Vampir, mit dunkelblauen Augen in einem langen, blassen Gesicht unter staubblondem Haar. Der Blick, den er mir zuwarf, hatte etwas so Anmaßendes, dass ich instinktiv einen Schritt zurückwich.
»Das hier betrifft Euch nicht, Herr Fuchs«, beschied Abraham ihn knapp.
»Trotzdem sollten wir nicht unsere Manieren vergessen, Abraham.« Rabbi Löw wandte sich dem Vampir zu. »Das ist Frau Roydon, Herr Fuchs. Sie ist aus der Kleinseite herübergekommen, um das jüdische Viertel zu besichtigen.«
Der Vampir fixierte mich, und seine Nasenflügel bebten genau wie Matthews, wenn er einen neuen Duft witterte. Seine Lider senkten sich schläfrig. Ich wich noch einen Schritt zurück.
»Was wollt Ihr hier, Herr Fuchs? Ich habe Euch doch gesagt, dass ich Euch vor der Synagoge treffen würde.« Abraham war sichtlich nervös.
»Ihr wart nicht da.« Die blauen Augen blitzten auf, und er lächelte mich an. »Aber jetzt, wo ich weiß, was Euch aufgehalten hat, kann ich Euch verstehen.«
»Herr Fuchs ist auf Besuch hier. Er kommt aus Polen und kennt Abraham von dort«, stellte Rabbi Löw ihn mir vor.
Auf der Straße rief jemand einen Gruß. »Da kommt Herr Maisel«, sagte Abraham. Er klang so erleichtert, wie ich mich fühlte.
Herr Maisel, der für gepflasterte Straßen sorgte und den kaiserlichen Verteidigungsetat auffüllte, stellte seinen Wohlstand durch einen maßgeschneiderten Wollanzug, ein pelzbesetztes Cape und ein knallgelbes Judenabzeichen zur Schau, das mit goldenem Garn an sein Cape genäht war und dadurch eher nach einem Orden als nach einem Kennzeichen aussah.
»Bitte sehr, Herr Fuchs.« Herr Maisel überreichte dem Vampir einen Beutel. »Ich bringe Euer Geschmeide.« Maisel verbeugte sich vor Rabbi Löw und mir. »Frau Roydon.«
Der Vampir nahm den Beutel und zog eine schwere Kette mit Anhänger heraus. Das Abbild darauf konnte ich nicht erkennen, dafür sah ich das rot-grüne Email. Der Vampir bleckte die Zähne.
»Danke, Herr Maisel.« Fuchs hielt das Stück in die Luft, und die Farben fingen das Licht ein. »Die Kette steht für meinen Eid, Drachen zu töten, wo immer ich sie auch finde. Ich bin froh, dass ich sie endlich wieder tragen kann. In der Stadt tummeln sich in letzter Zeit zu viele gefährliche Kreaturen.«
Herr Maisel schnaubte. »Nicht mehr als üblich. Und mischt Euch nicht in die Stadtpolitik ein, Herr Fuchs. Das ist besser für uns alle. Seid Ihr bereit, zu Eurem Gemahl zurückzukehren, Frau Roydon? Er ist nicht der geduldigste aller Männer.«
»Herr Maisel wird Euch wohlbehalten zum Ungelt bringen«, versicherte mir Rabbi Löw. Er bedachte Herrn Fuchs mit einem langen Blick. »Bringt Diana zur Straße, Abraham. Ihr bleibt währenddessen bei mir, Herr Fuchs, und erzählt mir von Polen.«
»Danke, Rabbi Löw.« Ich knickste zum Abschied.
»Es war mir ein Vergnügen, Frau Roydon.« Rabbi Löw sah mich an. »Und falls Ihr die Zeit dafür findet, dann denkt über das nach, was ich vorhin sagte. Keiner von uns kann sich ewig verstecken.«
»Nein.« Angesichts des Grauens, das die Prager Juden im Verlauf der nächsten Jahrhunderte durchleben würden, wünschte ich mir, er hätte unrecht. Nach einem knappen Nicken in Herrn Fuchs’ Richtung machte ich mich mit Herrn Maisel und Abraham auf den Weg.
»Einen Augenblick, Herr Maisel«, sagte Abraham, als wir außer Hörweite waren.
»Aber beeilt Euch, Abraham«, sagte Herr Maisel und trat ein paar Schritte zurück.
»Ich habe gehört, Ihr sucht etwas in Prag, Frau Roydon. Ein Buch.«
»Woher wisst Ihr das?« Ich erschrak.
»Die meisten Hexen in der Stadt wissen davon, außerdem sehe ich, dass Ihr damit verbunden seid. Das Buch wird gut bewacht und lässt sich nicht gewaltsam befreien.« Abraham sah mich ernst an. »Das Buch muss von selbst zu Euch kommen, sonst werdet Ihr es für alle Zeiten verlieren.«
»Es ist ein Buch, Abraham. Wenn ihm keine Füße wachsen, werden wir es wohl aus Rudolfs Burg holen müssen.«
»Ich weiß, was ich sehe«, erklärte Abraham eisern. »Das Buch wird zu Euch kommen, wenn Ihr nur darum bittet. Vergesst das nicht.«
»Bestimmt nicht«, versprach ich. Herr Maisel sah
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