Wo die Nacht beginnt
abgeschiedenen Bauernhaus fanden. Madame Roydon hätte allen möglichen Räubern zum Opfer fallen können.« Im Geschichtenspinnen konnte es der ältere de Clermont jederzeit mit seinem Sohn oder mit Christopher Marlowe aufnehmen.
»Ich werde herausfinden, was ihr widerfahren ist. Reicht mir Eure Hand.« Als ich der Aufforderung nicht sofort nachkam, wurde Champier ungeduldig. Er schnippte kurz mit den Fingern, und mein linker Arm schoss von selbst auf ihn zu. Scharfe, ätzende Panik überschwemmte meine Glieder, als er meine Hand packte. Er strich über meine Handfläche und tastete dann bedächtig und intim jeden einzelnen Finger ab, um Informationen zu sammeln. Mir wurde sofort übel.
»Liefert ihr Fleisch Euch Erkenntnisse über ihre Geheimnisse?« Philippe klang nur halb neugierig, doch ich sah einen Muskel in seinem Hals zucken.
»In der Haut einer Hexe lässt es sich lesen wie in einem Buch.« Champier runzelte die Stirn und hielt sich die Finger unter die Nase. Er schnupperte. Dann verzog er säuerlich das Gesicht. »Sie war zu lange unter Manjasang. Wer hat ihr Blut getrunken?«
»Das ist verboten«, antwortete Philippe samtweich. »Niemand in meinem Haushalt hat das Blut des Mädchens genossen, weder zum Vergnügen noch um bei Kräften zu bleiben.«
»Die Manjasang können das Blut einer Kreatur ebenso leicht lesen wie ich ihr Fleisch.« Champier zerrte an meinem Arm, schob den Ärmel nach oben und durchtrennte die dünnen Kordeln, mit denen die Manschetten an meinen Handgelenken gehalten wurden. »Seht Ihr? Jemand hat sich an ihr gelabt. Ich bin nicht der Einzige, der mehr über diese englische Hexe zu erfahren wünscht.«
Philippe beugte sich über meinen entblößten Ellbogen, um ihn genauer zu inspizieren, und ich spürte seinen Atem in einem kühlen Hauch über meine Haut streichen. Mein Puls schlug einen verzweifelten Trommelwirbel. Worauf war Philippe aus? Warum setzte Matthews Vater dieser Scharade kein Ende?
»Die Wunde ist zu alt, als dass sie hier zugefügt worden sein könnte. Wie gesagt, sie war erst seit einer Woche in Saint-Lucien.«
Überlege. Und überlebe. Ich wiederholte im Geist Philippes gestrige Instruktionen.
»Wer hat Euer Blut getrunken, Schwester?«, fragte Champier.
»Das ist eine Messerwunde«, antwortete ich zögernd. »Ich habe sie mir selbst zugefügt.« Das war nicht einmal gelogen, auch wenn es nicht die ganze Wahrheit war. Ich betete, dass die Göttin mir das durchgehen ließ. Meine Gebete wurden nicht erhört.
»Madame Roydon verheimlicht etwas vor mir – und vor Euch auch, glaube ich. Ich muss das der Kongregation melden. Das ist meine Pflicht, Sieur. « Champier sah Philippe erwartungsvoll an.
»Natürlich«, murmelte Philippe. »Es würde mir nicht im Traum einfallen, Euch an der Erfüllung Eurer Pflicht zu hindern. Wie kann ich Euch dabei helfen?«
»Wenn Ihr sie festhalten könntet, wäre ich Euch dankbar. Wir müssen tiefer nach der Wahrheit bohren«, sagte Champier. »Die meisten Kreaturen empfinden diese Suche als schmerzhaft, und selbst jene, die nichts zu verbergen haben, widersetzen sich instinktiv der Berührung durch eine Hexe.«
Philippe zog mich aus Champiers Griff und setzte mich ohne weitere Umstände auf seinen Stuhl. Er schlang einen Arm um meinen Hals und den anderen um meine Stirn. »So?«
»So ist es ideal, Sieur. « Champier baute sich vor mir auf und sah fragend auf meinen Haaransatz. »Aber was ist das?« Tintenfleckige Finger strichen meine Stirn glatt. Seine Hände fühlten sich an wie Skalpelle, und ich wand mich wimmernd unter Schmerzen.
»Warum bereitet ihr Eure Berührung solche Schmerzen?«, wollte Philippe wissen.
»Es ist das Lesen, das so schmerzhaft ist. Stellt es Euch wie das Ziehen eines Zahnes vor«, erklärte Champier und hob für einen kurzen, erlösenden Moment die Finger von meiner Stirn. »Ich werde ihre Gedanken und Geheimnisse von der Wurzel her lösen, sodass sich die Fäulnis nicht weiter ausbreiten kann. Das ist zwar schmerzhafter, aber es hinterlässt keine Spuren und liefert uns ein klareres Bild dessen, was sie zu verbergen versucht. Das ist der große Vorteil der Magie, müsst Ihr wissen, und der Universitätsbildung. Die Hexerei und die traditionellen Künste, die vom Weibsvolk ausgeübt werden, sind nur schlichter Natur und beruhen oft auf Aberglauben. Meine Magie arbeitet präzise.«
»Einen Moment, Monsieur. Vergebt mir meine Unwissenheit. Wollt Ihr damit sagen, dass diese Hexe sich nicht an das
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