Wo die Nacht beginnt
derjenige sich dabei denken mochte. Es schneite wieder, und die abweisende, kantige Winterlandschaft wirkte ungewohnt weich. Ich sah im verblassenden Licht zu Matthew auf und erkannte das Erbe seines Vaters in den energischen Gesichtszügen und den durchgestreckten Schultern.
Am nächsten Tag wurde St. Nikolaus gefeiert, und die Sonne strahlte auf den frisch gefallenen Schnee. Das Château lebte unter dem schöneren Wetter spürbar auf, obwohl wir immer noch Advent hatten, eine ernste Zeit der Einkehr und des Gebets. Leise summend machte ich mich auf den Weg in die Bibliothek, um meinen Stapel alchemistischer Bücher zu holen. Ich nahm zwar jeden Tag ein paar davon mit in die Rezeptur, aber ich achtete darauf, sie jeden Abend zurückzubringen. Zwei Männer unterhielten sich in dem von Regalen gesäumten Raum. Philippes ruhige, fast lässige Stimme erkannte ich sofort. Die andere war mir fremd. Ich drückte die Tür auf.
»Da ist sie ja«, sagte Philippe, als ich eintrat. Der Mann neben ihm drehte sich um, und meine Haut begann zu kribbeln.
»Ich fürchte, ihr Französisch ist nicht besonders gut und ihr Latein noch schlechter«, entschuldigte Philippe mich. »Sprecht Ihr Englisch?«
»Genug«, erwiderte der Hexer. Ich bekam eine Gänsehaut, als mich sein Blick abtastete. »Das Mädchen scheint bei guter Gesundheit zu sein, aber sie sollte nicht hier unter Euren Leuten leben, Sieur .«
»Ich würde sie liebend gern fortschicken, Monsieur Champier, aber sie kann nirgendwohin und braucht die Hilfe einer anderen Hexe. Darum habe ich nach Euch gesandt. Kommt, Madame Roydon.« Philippe winkte mich zu sich. Die Adoption schien vergessen.
Je näher ich kam, desto unwohler fühlte ich mich. Die Luft wurde stickiger, und eine beinahe elektrische Spannung lastete auf uns. Die Atmosphäre war so drückend, dass ich insgeheim ein Donnergrollen erwartete. Peter Knox hatte in meinen Geist eindringen wollen, und Satu hatte mir in La Pierre unaussprechliche Schmerzen zugefügt, aber dieser Hexer war anders und gleichzeitig irgendwie noch gefährlicher. Schnell ging ich an ihm vorbei und sah Philippe in einer stummen Bitte um Antworten an.
»Das ist André Champier«, erklärte Philippe. »Ein Drucker aus Lyon. Vielleicht habt Ihr von seinem Cousin, dem verehrten Arzt, gehört, der mittlerweile leider von uns gegangen ist und darum seine Weisheit in philosophischen und medizinischen Belangen nicht länger mit uns teilen kann.«
»Nein«, flüsterte ich. Ich beobachtete Philippe und hoffte auf einen Hinweis darauf, was er von mir erwartete. »Ich glaube nicht.«
Champier nahm Philippes Kompliment mit einem dezenten Kopfnicken zur Kenntnis. »Ich habe meinen Cousin nie kennengelernt, Sieur, denn leider verstarb er, bevor ich geboren wurde. Trotzdem ist es mir eine Ehre, Euch so gut von ihm sprechen zu hören.« Da der Drucker mindestens zwanzig Jahre älter war, als Philippe aussah, musste er wissen, dass die de Clermonts Vampire waren.
»Er war ein ebenso großer Student der Magie, wie Ihr es seid.« Philippes Kommentar klang wie üblich völlig sachlich und darum nicht anbiedernd. Dann erläuterte er mir: »Das ist der Hexer, nach dem ich schicken ließ, sobald Ihr angekommen wart. Er sagte, er habe Eure Kraft schon weit vor Sept-Tours gespürt.«
»Doch muss mich mein Instinkt getrogen haben«, murmelte Champier. »Jetzt, wo ich ihr gegenüberstehe, scheint sie kaum Kraft auszustrahlen. Vielleicht ist sie gar nicht die englische Hexe, von der man in Limoges spricht.«
»Limoges? Ungewöhnlich, dass sich die Kunde von der Hexe so schnell verbreitet hat. Doch Madame Roydon ist, glücklicherweise, die einzige umherziehende Engländerin, die wir aufnehmen mussten, Monsieur Champier.« Philippe ließ seine Grübchen sehen und goss Wein in einen Becher. »Es ist schon schlimm genug, dass man zu dieser Jahreszeit von französischem Wandervolk heimgesucht wird, da braucht man nicht auch noch von Ausländern überrannt zu werden.«
»Die Kriege haben viele aus ihrer Heimat vertrieben.« Champiers eines Auge war blau, das andere braun. Das kennzeichnete einen mächtigen Seher. Der Hexer strahlte eine drahtige Energie aus, die er aus den Kräften bezog, die um ihn herum in der Luft pulsierten. Instinktiv wich ich einen Schritt zurück. »Erging es Euch ebenso, Madame?«
»Wer weiß schon, welches Grauen sie sehen oder erleiden musste«, meinte Philippe achselzuckend. »Ihr Mann war schon zehn Tage tot, als wir sie in einem
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