Wo die Nelkenbaeume bluehen
oberschenkeldünnen Stamm einer Palme klammerte, die gut zehn Meter steil in die Höhe ragte. Offenbar war er kurz unterhalb der Stelle, an der die begehrten Kokosnüsse wuchsen, stecken geblieben und kam nun weder vor noch zurück.
Und etwas unterhalb seiner Position sah Lena noch eine zweite Gestalt, die sich langsam, aber beharrlich den Baum hinaufarbeitete.
Einen winzigen Augenblick lang blieb ihr vor Schreck das Herz stehen.
War das etwa …?
„Mein Gott, Stephen!“
Sie hatte das Gefühl, als würde ihr jemand den Boden unter den Füßen wegreißen, und für einen Moment waren ihre Knie so weich, dass sie nicht wusste, ob sie sich aus eigener Kraft auf den Beinen halten konnte. Doch schon in der nächsten Sekunde pulsierte pures Adrenalin durch ihre Adern, und sie blinzelte.
„Was können wir tun?“, fragte sie und schaute fordernd in die Runde. „Wir müssen doch etwas tun!“
Doch Fadhil, der seine Frau im Arm hielt, schüttelte den Kopf. „Es gibt nichts, was wir unternehmen können, außer abwarten und beten“, erklärte er, und Lena begriff.
Stephen war die einzige Hoffnung, die Hashim hatte, um heil aus dieser Sache herauszukommen.
Sie hob die rechte Hand an ihren Mund und kaute geistesabwesend auf dem Fingerknöchel ihres Zeigefingers, während sie angespannt beobachtete, was sich hoch über ihren Köpfen abspielte.
Stephen kletterte.
Der Stamm der Kokospalme fühlte sich glatt und rutschig unter seinen Fingern an und schien bis hinauf zum tiefblauen Nachthimmel zu ragen.
Der Junge, der sich kurz unterhalb der Krone festklammerte, schluchzte jetzt nur noch. Schwer zu sagen, ob er Stephen überhaupt schon bemerkt hatte.
Am Boden war es stockfinster, nur schmale Streifen silbrigen Mondlichts sickerten durch die Baumkronen. Ganz in der Nähe konnte Stephen das Rauschen der Brandung hören. Und dann, als er ein wenig höher gelangt war, sah er den Ozean, schwarz und geheimnisvoll glitzernd im Sternenglanz.
Der andere Mann, der ihm vom Farmhaus her gefolgt war, hatte offenbar Hilfe geholt. Doch die anderen – er glaubte Aaliyah und ihren Mann zu erkennen, ebenso wie Lena – konnten nichts unternehmen.
Es lag einzig und allein an ihm, wie diese Sache zu Ende ging – an ihm und an Hashim.
Er war jetzt beinahe bei dem Jungen angelangt. Der Stamm der Palme bog sich bei jeder Bewegung nach rechts und links, sodass man das Gefühl haben konnte, sich auf einem schwankenden Boot zu befinden.
„Hey, Kleiner“, rief er, und bemühte sich, seine Stimme neutral zu halten, damit sie keine Aufregung oder Anspannung verriet. „Hör zu, wir schaffen das zusammen. Du musst einfach ruhig bleiben, okay? Versuch, nicht nach unten zu sehen.“
„Ich kann nicht“, erklang eine gepresste Stimme von oben. „Wenn ich mich bewege, falle ich!“
„Nein, das wirst du nicht“, entgegnete Stephen mit einer Überzeugung, die er selbst nicht empfand. „Wenn du genau das tust, was ich dir sage, kommen wir beide heil aus der Sache raus.“
Kurzes Zögern, dem ein zaghaftes „Was soll ich machen?“ folgte.
„Du kletterst jetzt ganz langsam mit mir hinunter, okay? Schön vorsichtig, immer einen Schritt nach dem anderen“, sagte er. „Und keine Angst, ich bin direkt hinter dir. Dir kann überhaupt nichts passieren.“
Kaum jemand wusste besser als er, wie es sich anfühlte, an Hashims Stelle zu sein. Er wusste nicht mehr, wie lange es her war, doch er konnte selbst nicht viel älter gewesen sein als dieser Junge, als er sich in exakt derselben misslichen Situation befunden hatte. Damals war ein Mitarbeiter seines Vaters, der für die Reinigung der Hotelpools zuständig war, ihm zur Hilfe gekommen. Es hatte ihn große Überwindung gekostet, sich der ruhigen und besonnenen Stimme anzuvertrauen, die ihm Mut machte, wenn er glaubte, nicht mehr weiterzukönnen, und die ihm ein Gefühl von Sicherheit vermittelte.
Genau dasselbe wollte er nun für Hashim tun. Sein Fels in der Brandung sein. Denn klettern musste der Junge schon selbst. Alles, was Stephen tun konnte, war, ihn an sich selbst glauben zu lassen. Aber aus eigener Erfahrung wusste er, dass genau das den entscheidenden Unterschied ausmachte.
„Du schaffst das“, sagte er, das taube Gefühl ignorierend, das sich in seinen Armen ausbreitete. „Komm schon, los geht’s.“
Sie kamen voran. Zentimeter für Zentimeter anfangs. Dann, als das Selbstbewusstsein des Jungen wuchs, immer schneller und schneller. Bald hatten sie die Hälfte der Strecke
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