Wo die Nelkenbaeume bluehen
Verwandter. Er hat mir oft von einem Onkel erzählt, dem auf Sansibar eine Gewürzfarm gehörte. Seine Eltern sind schon vor vielen Jahren verstorben, und Geschwister hatte er keine. Kurz vor dem Unfall war Andy gerade dabei, ein Buch über seine Jugend auf Sansibar und die Geschichte seiner Familie hier zu schreiben. Doch er kam nicht mehr dazu, es zu vollenden.“
„Und jetzt wollen Sie das Buch für ihn zu Ende bringen“, mutmaßte Aaliyah.
Lena nickte. „Ja. Das Problem ist nur, dass ich Sansibar nur aus Andys Erzählungen kenne. Daher hatte ich gehofft, dass sein Onkel mir dabei helfen könnte, die Lücken in seinen Aufzeichnungen zu schließen.“ Bedauernd zuckte sie die Achseln. „Aber das hat sich ja jetzt wohl erledigt.“
„Einen Augenblick, ja?“ Aaliyah stemmte sich hoch und wandte sich auf Kiswahili an die anderen. Ganz sicher war Lena sich nicht, doch sie glaubte, irgendwo in dem Redeschwall immer wieder den Namen Andy herauszuhören. Als Aaliyah sich schließlich wieder zu Lena umdrehte, lag ein Strahlen auf ihrem Gesicht. „Wir werden Ihnen helfen, Lena.“
Sie blinzelte überrascht. „Sie? Aber wie?“
„Die meisten von uns Älteren haben Andy gekannt. Wir könnten seine Notizen mit Ihnen durchgehen und Dinge ergänzen. Und was die Geschichte der Familie betrifft – meine Urgroßmutter Fathiya kann Ihnen mit Sicherheit einiges über die Bennetts erzählen.“
Lena konnte es kaum glauben. Das wäre ja zu schön, um wahr zu sein. Würde sie so endlich mehr über Andys Vergangenheit erfahren? „Wollen Sie das wirklich für mich tun?“
Aaliyah nickte eifrig. „Aber natürlich – das heißt, wenn uns dieser Engländer bis dahin nicht von der Farm verjagt hat.“
Bei den letzten Worten war ihre Miene hart geworden. Lena hob eine Braue. „Wer ist das? Und warum sollte er Sie von hier vertreiben?“
„Ein Hotelier“, ergriff zum ersten Mal Aaliyahs Mann Fadhil das Wort. „Er hat in den letzten Jahren immer wieder versucht, Mr Bennett zu einem Verkauf der Farm zu bewegen, um hier ein Luxushotel zu errichten.“
„Zum Glück war Mr Bennett ein sturer Hund“, sagte ein älterer Mann und lachte heiser. „Der hätte die Farm nie hergegeben. Für kein Geld der Welt!“
„Tja, damit ist uns jetzt aber auch nicht geholfen“, erklärte Aaliyah. „Und es bringt auch nichts, wenn wir uns immerzu verrückt machen. Heute haben wir Andys Verlobte zu Besuch und damit erst einmal einen Grund zu feiern.“ Lächelnd wandte sie sich an Lena. „Sie tun uns doch den Gefallen und bleiben zum Abendessen?“
„Nichts lieber als das“, erwiderte Lena wahrheitsgemäß. Sie war so erleichtert, weil es nun tatsächlich voranzugehen schien, dass ihr schier ein Stein vom Herzen fiel.
Einen Tag nachdem sie zum ersten Mal einen Fuß auf sansibarischen Boden gesetzt hatte, war sie tatsächlich hier angekommen und gespannt darauf, was die Zukunft ihr bringen würde.
Es dämmerte bereits, als Lena mit Aaliyah, ihrer Familie und den anderen Arbeitern der Gewürzfarm am Lagerfeuer saß. Das Knistern der Glut vermischte sich mit dem Zirpen der Grillen und dem Rascheln des Windes, der durch die Baumkronen strich. Eine Frau namens Ngabile war inzwischen zu ihnen gestoßen. Aaliyah und sie hatten ein leises, wehmütig klingendes Lied auf Kiswahili angestimmt, und ein paar Männer klatschten und stampften im Takt dazu. Die Melodie nahm Lena gefangen, und ihre Gedanken trieben einfach davon in die Nacht. Noch nie hatte Lena so viele Sterne gesehen wie an dem rasch dunkler werdenden Himmel, der sich über ihnen spannte.
„Ich erinnere mich noch gut an Andy“, sagte Ngabile, nachdem der Gesang verklungen war. „Wir haben oft zusammen am Strand gespielt. Ich war sehr traurig, als seine Eltern mit ihm zurück nach England gegangen sind, weil seine Mutter krank wurde. Er muss damals so um die zwölf oder dreizehn gewesen sein.“
„Weißt du noch, das eine Mal, als er und Said diesen entlaufenen Hund von einem Fahrradausflug nach Chwaka Bay mitgebracht haben?“ Aaliyah lachte. „Die beiden haben keinen Schritt mehr ohne dieses Tier gemacht! Als ein paar Tage später der Besitzer auftauchte, flossen Tränen.“
Lena sog all diese Geschichten und Anekdoten regelrecht in sich auf. Sie hatte sich Andy schon lange nicht mehr so nah gefühlt wie an diesem Abend. Mit diesen Menschen hatte er seine Kindheit verbracht. Niemand auf der Welt kannte ihn länger als sie, nicht einmal Lena selbst oder
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