Wo die Nelkenbaeume bluehen
Oweihu zur Hilfe zu eilen, drängte er sie zurück gegen den kalten Fels und hielt ihr drohend die Spitze der Klinge vors Auge. „Du rührst dich besser nicht vom Fleck, Mädchen“, knurrte er. „Sollte ich auch nur das Gefühl haben, dass du uns folgst, wirst du es bitter bereuen, das schwöre ich dir!“
Henriette zweifelte nicht daran, dass er es ernst meinte. Seine Miene im Schein der Pechfackel wirkte düster und bedrohlich. Doch als sie von draußen her Oweihu gellend um Hilfe schreien hörte, ließ sie alle Vernunft fahren, riss sich los und wollte aus der Höhle stürmen. Mboko jedoch bekam noch ihre Haare zu fassen und riss sie mit einem brutalen Ruck daran zurück.
Henriette schrie vor Schmerz. Für einen Moment tanzten weiße Blitze vor ihren Netzhäuten, und sie konnte nicht mehr atmen. Dann, als ihr Blick sich wieder klarte, sah sie Mbokos Gesicht unmittelbar vor ihrem.
„Ich habe dich gewarnt“, erklärte er mit einem diabolischen Grinsen. „Und wer nicht hören will, muss fühlen!“
Er ballte seine rechte Hand zur Faust, holte aus und schlug zu.
Henriette wurde es schwarz vor Augen.
Sansibar, Jambiani, November 1887
Knapp zwei Monate später träumte Henriette noch immer von jener Nacht und fühlte sich zurückversetzt in die Steppe Tanganjikas. Dann war sie Mboko, ihrem Peiniger, wieder hilflos ausgeliefert, und die verzweifelten Schreie Oweihus klangen in ihren Ohren nach.
Oweihu.
Der Gedanke an ihn trieb ihr Tränen in die Augen. Der Junge hatte sein Leben in ihre Hände gegeben. Er war voller Vertrauen darauf gewesen, dass sie einen Weg finden würde, ihn in Sicherheit zu bringen. Doch sie hatte versagt.
In jener Nacht hatte Mboko sie mit einem einzigen gezielten Fausthieb bewusstlos geschlagen. Als sie kurz vor Morgengrauen erwachte, waren er und seine Spießgesellen längst über alle Berge.
Und mit ihm Oweihu.
Gott allein wusste, was aus dem Jungen geworden war. Sie hoffte, dass er es geschafft hatte, seinen Häschern ein weiteres Mal zu entkommen. Wirklich daran glauben konnte sie jedoch nicht.
Völlig auf sich allein gestellt hatte Henriette vor der Entscheidung gestanden, sich entweder auf die Suche nach ihrem Vater zu machen oder zu versuchen, sich auf eigene Faust bis zur Küste durchzuschlagen.
Schon allein aus Furcht, Mboko wiederzusehen, hatte sie sich für die zweite Alternative entschieden. Davon abgesehen – was sollte sie bei einem Mann, der auf der einen Seite behauptete, ein Diener Gottes zu sein, und sich gleichzeitig weigerte, etwas gegen die schreckliche Ungerechtigkeit zu unternehmen, die sich Sklaverei nannte?
Ohne jegliche finanzielle Mittel hatte die Reise zurück nach Dar-es-Salam eine kleine Ewigkeit gedauert, und Henriette war bis an die Grenzen ihrer Belastbarkeit gelangt. Ein freundlicher Fischer hatte sie nach Sansibar übergesetzt, wo sie sich in den schäbigsten Spelunken von Mji Mkongwe auf die Suche nach Gleichgesinnten machte.
Mehr als einmal wäre ihr die Naivität, mit der sie dabei vorging, fast zum Verhängnis geworden. Wie durch ein Wunder schaffte sie es aber, am Leben zu bleiben. Und schließlich gelang es ihr, Kontakt zu einer Gruppe herzustellen, die Sklaven befreite und aus der Reichweite der Sklavenhändler brachte. Eine Arbeit, die, wie man Henriette eindringlich warnte, mit einem großen Risiko verbunden war. Doch das konnte sie nicht schrecken. Sie wollte etwas bewirken. Wenn sie schon Oweihu nicht retten konnte, dann doch wenigstens so viele seiner Leidensgenossen wie möglich.
Mit ihrem Eifer für die Sache machte sie sich nicht nur Freunde. Bald schon waren ihr Gesicht und ihr Name den Sklavenhändlern und großen Plantagenbesitzern bekannt, sodass Henriette sich gezwungen sah, in den Untergrund abzutauchen.
So hauste sie nun alle paar Tage in einem neuen schäbigen Unterschlupf, teilweise unter noch schlechteren Bedingungen als die Menschen, die sie zu befreien versuchte. Doch das machte ihr nichts aus.
Für den Sieg der Gerechtigkeit mussten auch Opfer gebracht werden. Und im Gegensatz zu ihrem Vater war Henriette sich dafür nicht zu schade.
Sie legte sich wieder zurück auf die harte, stockfleckige Matratze, die ihr im Schuppen eines alten, seit Jahren nicht mehr genutzten Viehstalls als Bett diente. Sie hatte gerade die Lider geschlossen, als ein Quietschen, gefolgt von leisen Schritten, sie erneut aufschrecken ließ.
Da sich ihre Augen inzwischen an die Dunkelheit gewöhnt hatten, sah sie einen dunklen Umriss,
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