Wo die toten Kinder leben (German Edition)
in einer kleinen Gemeinde eingesetzt.“
„Dann lass uns zur Polizei fahren und ihn anzeigen“, sagte ich und wollte aufstehen.
„Bitte warte noch kurz“, sagte Paul leise.
Ich glaubte, meinen Ohren nicht trauen zu können. „Wie bitte?“
„Bitte lass uns das durchdenken.“
„Da gibt es nichts, was man überdenken müsste. Solch ein Schwein muss aus dem Verkehr gezogen werden“, brauste ich auf.
Pauls Blick signalisierte Verbindlichkeit. „Natürlich werden wir ihn melden und es wird selbstverständlich auch eine Anzeige geben. Aber ich habe mir gedacht, dass es vielleicht ganz nützlich wäre, wenn wir ihn zunächst einmal befragen.“
„Und dann vergessen wir ganz aus Versehen, ihn anzuzeigen und er wird versetzt und kann seine perversen Spiele anderswo fortsetzen?“
Paul schüttelte mit Bestimmtheit den Kopf. „Nein, so wird das nicht laufen. Da kannst du dir ganz sicher sein.“
18
D as Pfarrhaus bestand aus dicken Sandsteinquadern, deren Außenseiten im Laufe der Jahrhunderte schwarz angelaufen waren. Wir fanden es unweit der Kirche in der Mitte des abgelegenen Dorfes.
Vor einer schulterhohen Mauer parkten wir und liefen am Friedhof vorbei. Es war bereits dunkel. Der Kirchturm wurde von Scheinwerfern angeleuchtet. Die Reflektionen fielen zurück auf die Grabsteine, deren schwarzer Marmor kalt schimmerte.
Wagner drückte auf eine messingfarbene Klingel. Ein älterer Mann öffnete uns. Er trug einen Trainingsanzug, der schon bessere Zeiten gesehen hatte. Seine Haare wirkten feucht.
„Pfarrer Winkelmann?“, fragte Paul.
„Das Pfarrbüro hat bereits geschlossen“, sagte der Geistliche ziemlich unwirsch. „Aber wenn Sie schon mal da sind, was wollen Sie?“ - Dann erkannte er den Kragen von Paul. „Oh, entschuldigen Sie, Herr Kollege, aber in der Dunkelheit...“
Paul reichte ihm seine Karte. Der Pfarrer blickte darauf und ich hatte den Eindruck, als würde die Farbe seines Gesichtes einen Ton heller werden. Insgeheim nahm ich mir vor, mir eine solche Karte von Paul zu beschaffen, um zu sehen, was genau auf ihr geschrieben stand.
„Kommen Sie doch herein. Natürlich habe ich Zeit für Sie“, beeilte sich der Pfarrer zu sagen.
Er führte uns durch einen Gang, in dem einige Schuhe paarweise am Boden aufgereiht waren, in ein Wohnzimmer. Ein kleinerer Plasmafernseher stand darin, ein PC, und auf einem Tisch mit zwei Stühlen lag ein einzelnes Gedeck.
„Ich war gerade dabei, mir eine Suppe warm zu machen. Ich komme vom Fußballtraining… Aber setzen Sie sich doch“, sagte er.
„Sie brauchen nicht auf Ihre Suppe verzichten“, warf Paul ein.
„Wenn ich Besuch habe, kann ich mich ohnehin nicht aufs Essen konzentrieren. …Nehmen Sie doch Platz, und wir klären das, was Sie hierhergeführt hat, sofort. Vielleicht kann ich dann für Sie auch etwas kochen. Ich habe zwar nicht viel hier, aber - wie heißt es so schön? – wo einer satt wird, können es auch zwei oder drei.“
Er ging quer über den Flur in seine halboffene Küche und holte einen blauen Plastikstuhl, den er an den Tisch zu den anderen beiden Stühlen stellte. Wir setzten uns.
„Worum geht es?“, erkundigte er sich.
Paul öffnete die Aktentasche, die er bei sich trug, und zog eine Klarsichtfolie mit dem Foto heraus, das das Profil des Kinderschänders zeigte – vergrößert und zurechtgeschnitten, sodass der Betrachter nur den Mann, nicht aber die Kinder sehen konnte.
„Und?“, fragte der Pfarrer, während er dem Bild einen flüchtigen Blick zuwarf.
„Kennen Sie ihn?“
„Ja natürlich, das ist mein Kaplan.“
Stille senkte sich über den Raum. Der ältere Mann rutschte schließlich ungeduldig auf seinem Stuhl herum. „Was ist los? Warum zeigen Sie mir dieses Foto?“
Paul langte sich mit Daumen und Zeigefinger an die Nasenwurzel und massierte sie, während er angestrengt nach einer richtigen Formulierung suchte. Doch er fand sie nicht.
Ich langte schließlich an ihm vorbei in seine Tasche, ergriff die übrigen Aufnahmen, die wir ebenfalls ausgedruckt hatten und legte sie kommentarlos auf den Tisch.
Pfarrer Winkelmann schaute darauf und schien nichts wahrnehmen zu können. Dann begann er zu zittern - zuerst leicht und fast unmerklich, dann bebte sein ganzer Körper. Schließlich schlug er mit der flachen Hand mehrmals auf den Tisch. Ein Stöhnen drang aus seiner Kehle, es glich mehr einem Keuchen. Tränen traten ihm in die Augen und rannen über die Wangen.
Paul wartete lange, bis er fragte:
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