Wo die toten Kinder leben (German Edition)
weiß.“
„Hoffen wir, dass er die Wahrheit sagt“, gab ich nach.
Wir waren mittlerweile wieder beim Friedhof angelangt. Nebel hatte sich gebildet und stieg in sanften Schlieren wie feuchter Rauch in den Scheinwerferkegeln der Kirche empor.
Nachdem wir im Golf saßen, gab Paul die Adresse in das Navi ein. Die Fahrtzeit dorthin betrug nur wenige Minuten. Ich startete.
„Hörst du gerne Musik?“, fragte er.
„Nein“, antwortete ich, „die geht mir ganz fürchterlich auf die Nerven.“
Paul lachte trotz seiner Anspannung. „Das hätte ich mir denken können.“ Für einen Augenblick verschwanden die Sorgen aus seinem Gesicht. Er wirkte um Jahre jünger.
„Was machen wir mit dem Kaplan?“, fragte ich.
Pauls Miene verschattete sich. „Morgen werde ich die Fotografien der Staatsanwaltschaft übergeben. Dann werden die tun, was sie tun müssen.“
„Du weißt, wer ihn vorhin gewarnt hat“, fügte ich nach einer Weile hinzu.
„Pfarrer Winkelmann. Er hat ihn informiert und ihm gesagt, dass wir ihm auf der Spur sind.“
„Vielleicht hat ihm der Pfarrer nur geraten, sich zu stellen“, wandte ich ein, obwohl ich selbst nicht daran glaubte.
„Nein.“ Paul schüttelte entschieden den Kopf. „Ich denke, dass Winkelmann gelogen hat, als er uns sagte, er hätte keinen Verdacht geschöpft. Im besten Fall hat er die Sache nur ignoriert. …Hoffen wir mal, dass es beim besten Fall bleibt.“ Er wandte sich ab und gab sich den Anschein, als würde er durch das Fenster hinausschauen. Aber draußen war jetzt pechschwarze Nacht. Das Einzige, was er sehen konnte, war sein Spiegelbild in der Scheibe.
Die Straße, auf der wir fuhren, wurde enger. Bäume rückten heran und nur gelegentlich drang das Mondlicht quer durch ihre Spitzen bis auf die Fahrbahn. Die Reflektionslichter links und rechts am Straßenrand leuchteten. Ich hatte keine Eile und ließ mir Zeit.
Mein Navigationsgerät war die einzige Stimme in unserem Wagen. Es wies uns von der Hauptstraße herunter. Wir befuhren eine Schotterpiste und standen schließlich auf einem verlassenen Teerparkplatz vor einer aus Betonteilen gefertigten Lagerhalle.
„Ist das hier ?“, fragte ich.
„Ja.“
„Bist du sicher?“
Paul schaltete das Leselicht im Auto an, verglich die Notizen auf meinem Block, der zwischen uns gelegen hatte, mit den Angaben auf dem Navi. „Wir sind richtig.“
„Ein bisschen sehr einsam.“
„Ihm war es wichtig, dass uns niemand sieht. Das, was er uns zu sagen habe, sei vertraulich, hat er mehrmals betont.“
„Woher hat er eigentlich deine Handynummer?“
Paul zuckte mit den Schultern. „Im Dekanat weiß man, wie man mich erreichen kann. Er hat sich vermutlich an die Leute dort gewandt.“
Wir stiegen aus.
Ich langte hinter meinen Rücken, holte meine Neun-Millimeter hervor und entsicherte sie unter meiner Jacke, damit Paul nicht hörte, wie ich meine Waffe schussbereit machte. Ich behielt sie in meiner rechten Hand und ließ meinen Arm an der Seite herunterhängen. Die Waffe verbarg ich halb hinter meinem Bein.
„Siehst du jemanden?“, fragte ich.
„Nein.“
Es quietschte. Das Tor der Lagerhalle wurde auf seinen Rollen zur Seite bewegt. Im hell erleuchteten Türausschnitt erkannten wir die Silhouette eines Mannes.
„Sind Sie Wagner und Steinbach?“ Die Stimme des Mannes klang rau. Er flüsterte mehr, als dass er redete.
Paul nickte. „Ja.“
„Kommen Sie herein, aber machen Sie schnell!“
Wir gingen die Rampe empor, die in das Lagerhaus führte.
„Hat Sie jemand verfolgt?“, fragte der Mann vor uns, während er an uns vorbeiblickte und die Umgebung angestrengt beobachtete. Er war ungefähr Mitte zwanzig, stämmig gebaut und sein Gesicht war weich, mit geschwungenen Lippen, wie die einer Frau.
„Ist Ihnen wirklich niemand gefolgt?“, vergewisserte er sich nochmals.
„Nein“, sagte Paul. „ganz sicher nicht. Niemand weiß, wo wir uns im Moment aufhalten.“
Paul ging als Erster durch die Tür. Ich folgte ihm.
„Beeilen Sie sich! Hinten ist eine Art Büro, dort können wir uns unterhalten“, forderte uns der Mann auf. Er machte auf mich einen stark angespannten Eindruck.
Ich trat über die Schwelle, hörte ein Geräusch rechts neben mir und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Der Schlag traf mich quer über den Rücken und schmiss mich zu Boden. Ich verlor meine Waffe, sie schlitterte über den Beton.
Der Schmerz war übermächtig, er tobte durch mich hindurch. Die Luft war aus meinen
Weitere Kostenlose Bücher