Wo die toten Kinder leben (German Edition)
war auf seinen Lippen.
Ich öffnete den Wagen, bugsierte Paul auf den Rücksitz, wo er sich auf die Seite legte. Ich half ihm, beide Beine anzuwinkeln und schloss die Tür. Mühsam kletterte ich selbst hinter das Steuer, startete und fuhr los.
Satorius wohnte rund eine Stunde entfernt. Ich hoffte, dass es für Paul dann nicht bereits zu spät war.
20
D ie Umgebung, durch die wir fuhren, hatte jede Spur von Licht verloren. Die weißen Kegel unserer Autoscheinwerfer ließen die Fassaden der Häuser am Straßenrand fahl aufleuchten und wurden von deren Fenster reflektiert, die seelenlosen Augen glichen. Es herrschte kaum noch Verkehr auf den Straßen.
Ich gab Gas.
Hinter dem verzierten gusseisernen Zaun war der Umriss des Gebäudes zu erkennen, in dem Satorius wohnte. Ich drückte auf den Klingelknopf neben der Sprechanlage – einmal, zweimal. Nichts rührte sich. Ich versuchte zu erkennen, ob jemand zuhause war, aber ich sah kein erleuchtetes Fenster. Wieder drückte ich meinen Finger auf die Klingel. Diesmal lange.
Ohnmächtige Wut stieg ihn mir empor. Pure Verzweiflung begann, sich in mir auszubreiten. Ich konnte und wollte nicht mehr warten. Paul brauchte umgehend Hilfe. Auf der Fahrt hierher hatte er immer wieder gehustet. Er spuckte Blut. Ich konnte es nicht länger verantworten, ihn ohne professionelle Behandlung zu lassen.
Ich klingelte Sturm.
Endlich ging im ersten Stock ein Licht an. Bald darauf knackte es in der Sprechanlage. „Ja?“
„Ich bin’s! Anne. Ich habe Paul im Auto! Er ist verletzt. Es ist dringend!“
Ich erhielt keine Antwort. Das Knistern in der Sprechanlage brach ab. Ich stand allein in der Dunkelheit vor dem verschlossenen Tor, meine Hand um einen der Stäbe gelegt. Mein Blick war auf die Lampe im ersten Stock geheftet.
Die Lampe erlosch. Nichts geschah.
Endlich ertönte ein Summton. Ich drückte gegen die Tür und sie schwang auf.
Ich rannte zurück zum Auto, um die Hintertür auf der Fahrerseite zu öffnen.
„Geht’s noch?“, fragte ich hinein.
Als Antwort erhielt ich ein gepresstes Stöhnen.
„Wir sind jetzt bei Satorius“, fuhr ich hastig fort. „Wir können jetzt rein. Aber du musst mich ein wenig unterstützen. Dann werden wir es schaffen.“
Ich hörte Schritte hinter mir und drehte mich um. Meine Rechte suchte den Griff der Pistole in meinem Rücken. Ich erblickte Lorenzo.
„Was ist passiert?“, fragte er. Ohne meine Antwort abzuwarten, lugte er über meine Schulter in den Wagen, erfasste sofort die Situation und übernahm die Führung. „Mia cara, du packst die eine Schulter, ich die andere. Wenn wir Paul vorsichtig herausziehen, kann meiner Meinung nach nichts Gravierendes passieren.“
Ich nickte und wir holten Paul mit vereinten Kräften aus dem Wagen. Draußen versuchten wir, ihn aufzustellen. Paul strauchelte und machte Anstalten, nach vorne zusammenzusacken.
Ich bückte mich und legte einen von Pauls Armen über meine Schulter. Lorenzo tat es mir gleich. Wir hatten Paul in unserer Mitte und schleppten ihn gemeinsam zum Tor und durch den Vorgarten. Paul versuchte so gut es ging, uns zu unterstützen. Zeitweise lief er mit. Dann versagten seine Beine wieder, er wurde ohnmächtig, sein Körper erschlaffte und er drohte, uns zu entgleiten.
Die Haustür stand offen. Paul war gerade wieder bei Bewusstsein. Er bemühte sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen. Dennoch bewältigten wir die kurze Strecke nur mit äußerster Mühe. Durch die Anstrengung war ich schweißgebadet. Meine Haare klebten an der Stirn.
„Das schaffst du, Paul“, meinte Lorenzo.
Paul nickte und wir gelangten tatsächlich bis in die Wohnung.
Paul hatte jetzt endgültig keine Kraft mehr. Die Spitzen seiner Schuhe schleiften über das Parkett der Bibliothek.
Lorenzo öffnete die Tür zum dunklen Wintergarten, griff mit seiner freien Hand links neben sich an die Wand und fand den Lichtschalter. Sofort flutete angenehmes warmes Licht den Raum.
„Wir legen ihn auf den Schreibtisch hier“, sagte Lorenzo.
Auf dem Tisch stand noch der Laptop, an dem ich Satorius hatte arbeiten sehen, als wir ihn besucht hatten. Lorenzo überließ mir Paul und räumte schnell alle Sachen herunter. Gemeinsam hievten wir Paul auf den Tisch.
„Das ist jetzt etwas unbequem, aber ich denke, das ist das Beste, was wir momentan tun können“, meinte Lorenzo.
„Macht seinen Oberkörper frei“, ertönte eine Stimme vom Eingang des Wintergartens. Ich drehte mich halb um und erkannte Satorius in
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