Wo die toten Kinder leben (German Edition)
auch mit zu Satorius gekonnt, aber ich hatte den Eindruck, dass Paul alleine sein wollte. Die Ereignisse der letzten Stunden hatten ihn vollkommen aufgewühlt. Zudem war Paul auch körperlich ziemlich am Ende. Seine Verletzungen vom Vortag forderten ihren Tribut und wenn er meinte, unbeobachtet zu sein, wirkte er erschöpft. Er kämpfte sichtlich mit seiner Beherrschung, und mir erschien es besser, wenn wir uns für ein paar Stunden nicht sehen würden.
Ich fuhr in die Tiefgarage meiner Appartementanlage. Das künstliche Licht reflektierte sich kalt auf dem grauen Beton und dem Blech der Autos, die dort abgestellt waren. Die Parkbuchten waren eng bemessen und meine Stellfläche wurde obendrein durch eine Säule begrenzt. Ich musste mich beim Einparken jedes Mal stark konzentrieren, und der ein oder andere Kratzer an meinem Kotflügel bewies, dass mir das nicht immer gelang. Doch heute lief alles glatt. Ich stellte den Motor ab, blieb noch ein wenig sitzen, um Kraft für den Weg zu sammeln. Sicher brauchte ich Zeit für mich. Aber es war nicht leicht, in eine einsame Wohnung zurückzukehren. Niemand wartete auf mich. Kein Mensch war da, um mit mir das zu teilen, was mich beschäftigte. Und zu allem Überfluss geisterten Pauls graublaue Augen durch meinen Kopf. Sie verleiteten mich zu Gedanken, die ich besser nicht haben sollte, weil sie zu nichts führen konnten.
Ich seufzte. Na ja, da musste ich eben durch. Ich öffnete die Tür, kletterte hinaus, ging über die freie Fläche zwischen den Wagen in Richtung des Aufzugs.
Das Geräusch hinter mir kam unvermittelt. Instinktiv duckte ich mich und der Lappen, der mir auf Mund und Nase gedrückt werden sollte, erwischte meine Augen. Es brannte höllisch und stank nach Krankenhaus. Ich trat nach hinten und traf eine Kniescheibe. Es knackte. Ein unterdrückter Schrei ertönte. Dann wurde meine Jacke im Nacken gepackt und mir nach unten über den Rücken gerissen. Ich konnte die Arme nicht mehr bewegen. Jemand schlug mir in die Nieren. Der Angriff trieb mir wie ein Presslufthammer die Luft aus den Lungen. Ich stolperte nach vorne, wurde aufgefangen, herumgerissen und erhielt einen Tritt in Brusthöhe. Dieser Treffer war so schmerzhaft, dass ich für einen Augenblick keine Gewalt über meine Muskeln hatte. Ich sackte zusammen.
Jemand presste mich zu Boden.
„Du blöde Sau“, flüsterte eine dunkle Stimme.
Die Bilder vor meinen Augen waren verschwommen. Ich konnte nur noch Flecken und grelle Lichter ausmachen.
„Du blöde Sau“, wiederholte er. „Das ist dafür, was ihr Wittgen gerade antut!“
Wieder und wieder wurde mir mit der flachen Hand ins Gesicht geschlagen. Dabei kam der Kopf des Angreifers immer näher. Ich erkannte eine Skimütze. Die Augen, die durch die herausgeschnittenen Löcher auf mich starrten, waren weit aufgerissen, mit feinen roten Adern durchzogen.
Die Schläge prasselten auf mich ein. Mein Kopf wurde hin- und hergeworfen. Ich war durch die heruntergezogene Jacke wie gefesselt und konnte nicht ausweichen.
Mein Angreifer stieß obszöne Beschimpfungen aus, ohne mit seinen zahllosen Schlägen nachzulassen. Dann erschien eine Rolle Teppichklebeband in seiner Hand. Er begann, ein Stück des Plastikstreifens abzurollen, in der Absicht, es mir über den Mund zu kleben.
Mein Angreifer war sich sicher, dass ich mich nicht wehren konnte.
Als sein Gesicht mit der Skimaske wieder nah bei mir war, stieß ich mit dem Kopf nach vorne, so hart und fest ich konnte. Ich hatte vor, seine Nase zu treffen, stattdessen krachte ich mit der Stirn gegen seinen Kehlkopf. Er röchelte, ließ von mir ab und hielt sich mit beiden Händen den Hals.
Ich rollte mich zur Seite und über den Boden. Dabei schälte ich mich aus der Jacke. Mit der gezückten Neun-Millimeter sprang ich auf.
Mein Angreifer saß am Boden. Er presste seine Finger gegen die Kehle. Sein Röcheln ging in ein lautes Keuchen und Würgen über.
Ich richtete den Lauf der Waffe auf ihn, trat an ihn heran und zog ihm mit einem Ruck die Skimütze herunter. Ein weiches, beinahe weibliches Gesicht blickte mir entgegen. Es handelte sich um den Mann, der Paul und mich in das Lagerhaus gelockt hatte.
„Du mieses Arschloch“, zischte ich. „Wie gefällt dir zur Abwechslung die Opferrolle?“ Ich atmete heftig und brauchte eine Weile, bis ich fortfahren konnte. „Du denkst, das ist das Schlimmste, was dir passieren kann? Da irrst du dich gewaltig!“
Ich hob die Hand mit der Waffe und schlug den harten Pistolengriff mit
Weitere Kostenlose Bücher