Wo die toten Kinder leben (German Edition)
zu Unrecht beschuldigt hat. Wenn ich hier die Beichte ablege, kann keine dritte Person im Raum sein, und schon gleich gar nicht eine Frau.“
„Es ist noch nicht sicher, ob ich Ihnen die Beichte abnehmen werde. Zunächst müssen wir uns allgemein unterhalten.“ Pauls Stimme hatte einen Tonfall angenommen, den ich bei ihm zuvor noch nicht gehört hatte.
„Was gibt es da zu unterhalten!“, schrie Wittgen. „Ich bin unschuldig! Ich bin das Opfer übler Machenschaften. Das ist gezielter Rufmord, was man mir antut. Sehen Sie das denn nicht? Man will die Kirche diskreditieren. Das ist ein atheistisches Land. Und man versucht, uns Priestern ständig schreckliche Dinge zu unterstellen. Wir können tun und lassen, was wir wollen! Wir sind immer die Schuldigen! Nur deshalb, weil wir den weißen Kragen tragen! Weil wir uns zu unserem Glauben bekennen.“
Paul hob eine Hand. „Was reden Sie da?“
Wittgen verstummte kurz, dann brauste er erneut auf. „Ich sagte, dass ich unschuldig bin! Nichts von dem, was man mir vorwirft, habe ich getan! Ich habe überhaupt nichts getan! Selbstverständlich trainiere ich Kinder und Jugendliche! Aber das tue ich in meiner Funktion als Seelsorger! Niemals würde ich Buben, die mir anvertraut sind, etwas Schlechtes tun! Das können Sie mir glauben.“
Paul langte in seine Tasche und holte den Umschlag mit den Bildern heraus, die wir auf der Speicherkarte in Bernhards Zimmer gefunden hatten. Wortlos begann er, die Fotografien auf dem Tisch auszulegen.
„Das ist ja schrecklich!“, sagte Wittgen, als er das erste Foto betrachtete. „Wie kann man nur solche Aufnahmen machen? Wie können sich Leute nur an so etwas ergötzen? Das ist unglaublich! Was ist das für eine kranke Welt? Das ist nur dieser Atheismus, der hier herrscht!“
Wieder legte Paul einige Bilder auf. Und wieder quittierte sie Wittgen mit einem entsetzten Kopfschütteln. Als letzte Aufnahme präsentierte Paul das Foto, auf dem das halbe Gesicht des Kaplans zu sehen war. Paul tippte mit dem Finger darauf und blieb weiterhin stumm.
Wittgen blickte nur kurz auf das Foto, fiel auf seinen Stuhl zurück und starrte uns ausdruckslos an. Sein Körper begann zu zittern. Ich dachte, er würde sich aufregen. Und dann, nach einer kleinen Weile, begann er zu lachen. „Na sieh mal einer an, da hat der kleine dumme Wagner-Pfaffe doch einen Glückstreffer gelandet!“ Er grinste Paul hämisch an. „Und damit, glauben Sie, haben Sie mich überführt?“
Paul schwieg, während er sich auf seinem Stuhl zurücklehnte.
„Eines sage ich Ihnen. Ich habe mir nichts vorzuwerfen. Diese Jungs, diese Buben, die machen das sowieso. Das sind ganz verdorbene Kerle. Denen gefällt das. Sehen Sie die Bilder? Sehen Sie ihre Gesichtsausdrücke?“
Paul verschränkte seine Arme vor der Brust. Seine Augen schienen schlagartig kalt und berechnend. „Ich sehe Kinder, die Schmerzen und Angst haben.“
„ Schmerzen ?“, Wittgen schlug mit beiden Händen auf das abgewetzte Holz des Tisches. „ Angst ? Das macht denen Spaß ! Die haben danach förmlich gelechzt ! Sie haben uns regelrecht angefleht , dass wir das mit ihnen machen!“
Paul behielt seine distanzierte Körperhaltung bei. Er räusperte sich und sagte: „Das war jetzt Ihre Beichte?“
„Das soll meine Beichte gewesen sein? Tun Sie nicht so heilig! Sie sind doch auch nicht besser als ich.“
Pauls Mundwinkel zuckten leicht.
Wittgen feixte. „Da bleibt Ihnen die Spucke weg, was? Sie kommen hierher, um den Überheblichen zu mimen. Dabei haben Sie schon längst Ihren Eid gebrochen. Oder haben Sie Ihr Ding noch nicht in diese blöde Schlampe hier gesteckt?“ Und an mich gewandt fügte er hinzu, während sich sein Grinsen zu einer widerlichen Fratze ausbreitete: „Na, macht es dir Spaß, von einem Priester gevögelt zu werden? Das ist mal was anderes, nicht?“
Ich zwang mich, ruhig zu bleiben, stand auf und das Lächeln auf meinem Gesicht war fast echt. „Komm Paul“, sagte ich. „Ich glaube, es ist an der Zeit, dass wir gehen.“
Paul erhob sich. „Ja“, pflichtete er mir bei. „Hier werden wir nichts mehr erfahren.“
An der Tür drehte ich mich noch einmal um. Ich wies mit meinem Finger Richtung Flur. „Wir gehen jetzt nach draußen. Und Sie, Sie bleiben hier. Für eine lange Zeit.“
31
I ch setzte Paul bei Satorius ab und da es mittlerweile spät geworden war, beschloss ich, in meine Wohnung zu fahren, eine Kleinigkeit zu essen und mich richtig auszuschlafen.
Ich hätte ohne Weiteres
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