Wo die toten Kinder leben (German Edition)
abzuschneiden. „…Denn bislang führten uns die wenigen Spuren, die wir aufgedeckt haben, zu einem ganz anderen Verbrechen.“
„Ah ja, welchem denn?“
„Kindesmissbrauch“, sagte ich knapp. Es fiel mir in diesem Moment relativ schwer, überhaupt zu sprechen. Ich musste mich darauf konzentrieren, nicht laut aufzuheulen, weil das Reinigen der Wunde sehr schmerzhaft war.
„Kinderschändung? Wie furchtbar!“
„Das ist wirklich entsetzlich. Ich bin froh, dass wir zumindest das jetzt zu einem Abschluss bringen werden“, gab ich ihr recht.
„Kinder“, sprach Frau Dr. Hofmann zärtlich und fast träumerisch, „Kinder sind das Größte und Beste, was uns Gott schenken kann.“
Als ich nicht antwortete, blickte sie auf und lächelte ein wenig. „Sie glauben nicht an Gott?“
Ich zuckte vorsichtig mit meiner gesunden Schulter. „Wenn ich sehe, was sich Menschen gegenseitig antun und es soll einen Gott geben, der das zulässt… - es fällt mir schwer, an ihn zu glauben.“
„Das kann ich verstehen. Aber gerade der Glaube kann Ihnen über vieles hinweghelfen.“
Ich blieb still und sie redete weiter, während sie sich gewissenhaft um meine Wunde kümmerte. „Kinder sind ein Geschenk Gottes. Unsere Aufgabe ist, diese kleinen Wunder zu versorgen und alles dafür zu tun, dass sie glücklich ins Leben hinausgehen.“
Ich quittierte ihre Bemerkung mit einem höflichen Lächeln und diesmal gelang es mir besser.
„Haben Sie Kinder?“, fragte sie unvermittelt.
Ich zögerte mit meiner Antwort. „Eine Tochter, aber sie lebt bei ihrem Vater.“
„Das ist bedauerlich. Heutzutage gibt es wenig Ehen, die auf Dauer halten.“
„Und Sie?“, fragte ich zurück.
Frau Dr. Hofmann stockte mitten in der Bewegung. Ich dachte schon, sie würde mir überhaupt nicht mehr antworten. Doch dann schüttelte sie entschieden den Kopf. „Das Geschenk eigener Kinder hat mir Gott nie gegeben. Aber alle Kinder, die in meiner Gemeinde geboren werden, gehören auf irgendeine Art und Weise auch mir.“ Jetzt sah ich sie lächeln. „Jedenfalls fühle ich mich für sie verantwortlich“, fügte sie hinzu.
„Das ist schön“, meinte ich.
Frau Dr. Hofmann war fertig mit meiner Wunde. Sie besprühte die Stelle mit einem antiseptischen Mittel und klebte ein breites Pflaster darauf. „So, das ist wieder in Ordnung. Sie können sich anziehen und in ein paar Tagen… - naja, werden die Schmerzen deutlich nachgelassen haben.“
Wir lachten beide und ich stand auf.
„Entschuldigen Sie, dass ich Sie mitten in der Nacht gestört habe“, sagte ich.
„Oh, …aber das haben Sie nicht. Ich war beschäftigt.“
„Um diese Zeit?“ Ich blickte auf die Uhr. Es war fast drei Uhr früh.
„Ich stehe nachts gerne auf.“ Sie lächelte. „Dann gehe ich meinen künstlerischen Ambitionen nach. In meiner Werkstatt im Garten. Tagsüber finde ich dafür keine Zeit. …Ich war gerade mit dem Ablösen von Baumrinde beschäftigt. Deshalb mein Mundschutz und der seltsame Geruch, der an mir haftet. Er stammt von Diethylether. Hoch entzündlich, aber unschlagbar bei der Behandlung von Holz.“
„Sie stehen mitten in der Nacht auf, um an Ihren Skulpturen zu arbeiten?“
„Finden Sie das schräg?“ Sie lachte. „Ich brauche das einfach als Ausgleich. Und danach schlafe ich wie ein Stein. Sie wissen schon… ein gutes Gewissen…“
„Ja“, unterbrach ich sie. „Das wird wohl bei mir der Grund sein.“
„Sie schlafen nicht gut?“, fragte sie.
„Nicht immer, aber ich tue mein Bestes.“
Sie begleitete mich zur Tür.
Ich trat hinaus in die Nacht. Die Skulpturen im Vorgarten grüßten mich zum Abschied. Ihre dürren ausgebleichten Arme wirkten seltsam verdreht und verknotet im fahlen Licht des Mondes. Ich rätselte, wieso sie mir beim Herfahren freundlich erschienen waren.
34
D ie Vorstellung, in meine verlassene Wohnung zurückzukehren, war mir inzwischen unerträglich. Mein Golf fand wie von selbst den Weg zu Satorius. Sollte das Haus dunkel sein, wovon ich um vier Uhr früh ausgehen musste, würde ich einfach im Auto bis zum Morgen warten.
Zu meiner großen Erleichterung schimmerte in einigen Fenstern Licht. Dennoch überlegte ich mir, ob es angebracht wäre, zu stören. Doch eigentlich wusste ich die Antwort schon im Voraus. In diesem Moment wollte ich alles andere, nur nicht alleine sein.
Ich stieg aus dem Auto, betätigte die Klingel und kurz darauf wurde mir geöffnet. Lorenzo stand im Türrahmen und sein warmes Willkommenslächeln erstarb, als ihm
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