Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Informationen bekommen. Niemand in diesem Raum würde uns erklären können, warum Vivian sich hatte erhängen wollen.
„Paul, ich glaube, es ist das Beste, wenn wir jetzt aufbrechen“, sagte ich.
Paul warf mir einen forschenden Blick zu und als er sah, dass ich es ernst meinte, nickte er. „Ja. Wir können hier im Moment nichts weiter tun.“ Und zu den Kerns gewandt: „Wann immer Sie mich brauchen – Sie haben meine Telefonnummer und Sie haben jetzt auch meine Handynummer. Rufen Sie mich einfach an und ich bin in wenigen Minuten bei Ihnen.“ Er erhob sich.
Ich ging hinüber zum Kaminsims. Die Bilder ließen mich nicht los. „Sie haben Ihre Firma selbst aufgebaut?“, fragte ich Herrn Kern.
Herr Kern nickte. „Ich habe ganz klein angefangen, mit einem schäbigen Lagerraum. Er war der Grundstock zu meinem Unternehmen.“
„Sie können stolz auf das sein, was Sie geschaffen haben“, sagte ich und Herr Kern nickte erneut.
„Und Sie? Sind Sie auch berufstätig?“, fragte ich seine Frau.
Frau Kern straffte ihre Schultern und sah mich an. „Nein, wie kommen Sie darauf? Bei der Größe unserer Firma - …da muss ich nicht arbeiten. Wir können uns den Luxus leisten, dass ich meinem Mann den Rücken freihalte.“
Ich griff mir das leicht verblichene Abiturfoto vom Kaminsims und deutete lächelnd mit dem Finger darauf. „Na, ich dachte, weil ich hier ein Schulfoto von Ihnen sehe, dass Sie vielleicht auch studiert haben. Es hätte ja sein können, dass Sie ebenfalls einen Beruf ausüben.“
Frau Kern versuchte, zurückzulächeln. „Das stimmt schon. Ich habe Chemie studiert. …Aber als wir geheiratet haben, war es für mich selbstverständlich, dass ich zuhause bleibe.“
„Das war besser“, pflichtete ihr Herr Kern bei. „Wir wollten, dass es Vivian an nichts mangelt. …Sie müssen wissen…, meine Frau hatte mehrere Fehlgeburten, bevor sie mit Vivian erfolgreich schwanger wurde. Deshalb haben wir auch keine weiteren Kinder. …Wir wollten, dass unsere Tochter immer jemanden hat, der für sie da ist. Wir haben immer alles für sie getan. Wir haben immer unsere Interessen hintenan gestellt. Unsere Tochter ist unser Lebensmittelpunkt.“
„Ja“, meinte ich lahm. Und weil mir nichts einfiel, was die unausgesprochenen Ängste der beiden Menschen vor einem erneuten Selbstmordversuch ihrer Tochter hätte zerstreuen können, fügte ich an: „Wo haben Sie sich kennengelernt?“
„In Neustadt“, antwortete Herr Kern. „Meine Frau machte gerade Abitur und ich hatte dort eine Praktikumsstelle bei einer Firma. Wir haben uns im Bürgerzentrum getroffen.“
„Sie sind aus Neustadt?“, fragte ich Frau Kern.
Frau Kern schüttelte den Kopf. „Nein. Ich war dort lediglich im Internat. Und…, naja, … - für junge Menschen wurde nicht viel geboten. Also habe ich mich in der Gemeinde engagiert. Und dort haben wir uns dann das erste Mal gesehen.“
Ich wollte das Foto zurückstellen. Doch dann blieb mein Blick an der Ablichtung hängen und mir wurde bewusst, warum sie mir bekannt vorkam. Es lag nicht an den zahlreichen ähnlichen Schulfotos, die ich kannte, sondern an einer ganz besonderen Aufnahme, die ich erst vor Kurzem im Wohnzimmer von Cornelias Eltern gesehen hatte. Die Fotos waren identisch.
Paul reichte Frau Kern zum Abschied soeben die Hand.
Ich räusperte mich. „Frau Kern. Ich hätte noch eine letzte Frage.“
Frau Kern wandte sich mir zu.
„Ihre Vivian war doch mit Cornelia Heinze gut befreundet.“
Ich sah die Angst in Frau Kerns Augen aufleuchten. Die Angst, ihr Kind doch noch zu verlieren. „Cornelia hat Selbstmord begangen. Denken Sie, dass Vivian deshalb…“ – sie brach ab.
„Bitte entschuldigen Sie“, beeilte ich mich zu sagen. „Ich habe das soeben sehr unglücklich formuliert. Was ich eigentlich wissen wollte, ist: Waren Sie und Cornelias Mutter ebenfalls Freundinnen? – Ich frage deshalb, weil Frau Heinze das gleiche Schulfoto besitzt, wie Sie auch.“
Frau Kern atmete erleichtert aus. „Ach, Frau Heinze und ich besuchten die gleiche Jahrgangsstufe. Aber sie war nicht in meiner Klasse. Wir kannten uns damals mehr oberflächlich. Ich glaube, wir hatten gemeinsam Sportunterricht. Ich habe sie erst besser kennengelernt, als sich Vivian und Cornelia angefreundet haben.“
Herr Kern begleitete uns zur Tür. Wortlos drückte er sie hinter uns ins Schloss.
Draußen erwartete uns Dunkelheit und ein blauschwarzer Himmel. Eine dicke Wolkendecke lag über uns. Ich konnte keinen einzigen Stern
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