Wo die toten Kinder leben (German Edition)
Wir übernehmen!“
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I ch saß auf einem Sessel in dem großen Wohnzimmer, in dem Paul und ich vor rund drei Stunden bereits einmal gestanden hatten. Der Laptop auf dem Schreibtisch in der Ecke des Raumes war inzwischen heruntergefahren, das Holz mit den Nägeln und Vivians Blut weggeräumt. Sonst hatte sich an dem Raum nichts verändert – wohl aber für die Familie Kern, wobei es noch schlimmer hätte kommen können. Viel schlimmer. Dank unseres Eingreifens hatte Vivian überlebt. Sie schwebte nicht mehr in Lebensgefahr, hatten uns die Ärzte wissen lassen, musste jedoch noch für ein paar Tage zur Beobachtung in der Klinik bleiben. Ab morgen würde sie Besuch empfangen dürfen.
Ich rührte gedankenverloren in meinem Tee.
Paul und ich hatten den Eltern die Nachricht vom versuchten Selbstmord Vivians überbracht. Die Mutter war beinahe zusammengebrochen und den Vater hatten wir kaum davon abhalten können, sofort ins Krankenhaus zu eilen.
Paul hatte sich mit beiden ins Esszimmer zurückgezogen. Wenn ich genau darauf achtete, hörte ich durch die geschlossene Tür ihre Stimmen wie ein leises Flüstern zu mir durchdringen.
Ich stand auf und begann, mich umzusehen. In den beleuchteten Vitrinen befand sich hauptsächlich Porzellan und eine antike Gesamtausgabe von Goethes Werk. Ich fand nichts, was irgendeinen Aufschluss über die Bewohner des Hauses, oder über den bizarren Selbstmordversuch Vivians hätte geben können.
Andererseits sah man dem Zimmer den Wohlstand der Familie an. Der offene Kamin, mit dem gemauerten Sims aus Naturstein, sprach eine deutliche Sprache. Ich ging hinüber und stellte mir vor, wie das Feuer an Winterabenden munter knacken würde. Es war alles in allem ein gemütliches und wohnliches Heim – ein Platz, an dem man sich rundum wohlfühlen konnte.
Ich betrachtete die Bilder, die auf dem Kaminsims standen. Vivian, die ich gemeinsam mit Paul erst vor kurzem nahezu stranguliert über das Brückengeländer gezogen hatte, lachte mich aus verschiedenen goldenen Bilderrahmen an. Die Fotos waren offensichtlich allesamt in einem Abstand von jeweils ein paar Jahren geschossen worden. Immer war das Kind glücklich und fröhlich gewesen. Immer sah sie in die Kamera. Nie war eine Spur von Angst oder Depression zu erkennen.
Es gab Fotos von Urlaubsorten - der obligatorische Blick auf eine Mittelmeerinsel fehlte ebenso wenig, wie Aufnahmen von tief verschneiten Berghängen.
Auch die Eltern waren in der Galerie vertreten – konventionelle Portraits, lächelnd, in privater Umgebung. Die Arbeitsstelle des Vaters war abgelichtet und sogar ein altes Schulfoto der Mutter befand sich in der beachtlichen Sammlung. Eine Aufnahme, wie man sie schon dutzende Male gesehen hatte, sodass sie einem irgendwie bekannt vorkam: Mädchen mit altmodischen Frisuren und seltsam unsportlichen Körpern standen zu einer Gruppe zusammen und versuchten, erwachsen auszusehen. Tja, die Zeit verging.
Die Tür zum Esszimmer öffnete sich. Zunächst erschien Paul. Vivians Eltern folgten. Der Vater hatte wieder etwas Farbe im Gesicht. Die Augen der Mutter waren vom Weinen rot gerändert, aber auch ihr schien es etwas besser zu gehen. Sie wirkte gefasster.
„Frau Steinbach“, begann Herr Kern. „Ich weiß gar nicht, wie wir Ihnen und Herrn Wagner danken sollen, dass Sie unsere Vivian gefunden und gerettet haben. Wenn Sie nicht gewesen wären…“ Herr Kern brach ab.
„Sie müssen sich nicht bedanken. Herr Wagner und ich sind froh, dass es Vivian jetzt den Umständen entsprechend gut geht und sie bald wieder zu Ihnen nach Hause kann“, winkte ich ab.
Stille breitete sich aus.
„Schöne Fotos“, sagte ich nach einer Weile. Frau Kern sah mich an und ich wurde konkreter. „Ich habe mir gerade gedacht, was für ein wunderschönes Heim Sie hier haben.“
Frau Kern nickte, setzte sich und legte ihre zitternden Hände auf die Knie. Ihr Mann nahm neben ihr Platz, hielt aber Abstand – ganz so, als würde er es nicht wagen, sie zu berühren. Paul setzte sich ebenfalls in einen Sessel und wieder war da dieses Schweigen. Dieses Schweigen, das ich in den letzten Tagen viel zu oft erlebt hatte.
Paul wandte sich mir zu. „Herr und Frau Kern können sich überhaupt nicht erklären, was in Vivian gefahren ist.“
Ich betrachtete die beiden Menschen, die vor mir saßen und erinnerte mich an ein anderes Elternpaar, das ich fast in der gleichen Haltung und in nahezu identischer Verfassung gesehen hatte. Nein, hier würden wir keine weiteren
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