Wo die Toten ruhen - Psychothriller
nie genug Geld. Und was sollte ihre Mutter auch tun? Die Mütter der drei Mädchen anrufen?
Eines Tages waren sie ihr so dicht auf den Fersen, dass sie die Schimpfnamen nicht rufen mussten, sondern nur zu murmeln brauchten, was noch viel bedrohlicher war.
»Wir könnten dich hier und jetzt aufschlitzen «, sagte eine.
»Geh schneller«, sagte die Letzte warnend, »sonst kriegen wir dich.«
Sie lief, so schnell sie konnte.
»Warum läufst du?«, fragte Tom, der sie einholte, während sie schweißgebadet den letzten Hügel hinaufhastete.
»Wo kommst du denn her?«
»Hab’ heute frei bekommen. Der Coach hat eine Lebensmittelvergiftung.«
»Aha.« Sie verlangsamte.
»Es ist viel zu heiß, um so zu rennen.«
»Du hast ja Recht.« Sie blickte sich um, doch die Mädchen waren verschwunden, wahrscheinlich, als sie Tom gesehen hatten, den Quarterback, der mit fünfzehn schon über eins achtzig groß war und die übertrieben ausgebildete Muskulatur einer Batman -Comicfigur hatte. Sie atmete tief durch und versuchte, sich wieder zu beruhigen. Ein Palisanderbaum blühte groß und purpurrot zwischen dem Bürgersteig und der Straße. Selbst in der gelben Luft von Whittier, durch die verschmutzte Atmosphäre zweifellos ebenso stark gebeutelt wie durch trockenen Boden und Vernachlässigung, entfalteten diese Bäume am Bordstein sich wie Revuegirls in Las Vegas, die ihre schönsten Federn angelegt haben.
»Also, warum?«
»Nur so.«
»Lügnerin. Du läufst nie ohne Grund. Du siehst in letzter Zeit ziemlich fertig aus, Kat. Selbst Ma ist das schon aufgefallen.«
»Danke. Ich hasse dich auch. Hat sie gesagt, du sollst mit mir reden?«
Er nickte.
»Ich habe Probleme. Drei an der Zahl. Aber das darfst du Ma nicht erzählen.«
»Niemals.«
Zum ersten Mal im Leben teilte sie sich ihrem jüngeren Bruder mit, sie schenkte ihm zum ersten Mal ihr Vertrauen und erzählte ihm alles.
Die Haut um sein Kinn straffte sich, und sie fürchtete, dass sie womöglich einen sehr bösen Dschinn entfesselt hatte. »Versprich mir, dass du ihnen nicht wehtust.«
»Himmel, okay, aber ich mag Sachen nicht, die mich zum Nachdenken zwingen.«
Doch genau das tat er wohl, denn erstaunlicherweise gingen die Mädchen ihr von diesem Tag an in den Korridoren aus dem Weg. Sie folgten ihr nicht mehr nach Hause. Und es klebten auch keine gehässigen Zettel mehr an ihrem Schließfach.
»Was hast du gemacht?«, fragte Kat Tom einige Wochen später.
»Ich habe ihnen was anderes gegeben, womit sie sich befassen können, die freundliche Aufmerksamkeit von zwei Jungs aus der Mannschaft, die mir was schuldig waren. Mach dir deinen Feind zum Freund, richtig? Die belästigen dich nicht mehr.«
Er war für sie immer eine Art kleiner Kumpel gewesen. Doch jetzt war er ihr Held. »Tommy, danke. Ganz ehrlich, wenn ich
der liebe Gott wäre, würde ich dich in den Himmel aufnehmen.«
»Das würde mir im Augenblick wenig helfen. Denn ich muss gerade einen sehr schwierigen Aufsatz über die amerikanische Geschichte schreiben«, sagte er.
»Schon erledigt. Und mach dir keine Sorgen, ich schreibe ein paar Sachen falsch und baue ein paar ungeheuerliche Grammatikfehler ein, dann merkt’s keiner.« Sie blieb die ganze Nacht auf, um seinen Aufsatz fertig zu schreiben.
Danach war sie in allem von ihm abhängig, ob es um Geständnisse ging, um kleine Rachefeldzüge oder um eine Schulter zum Ausweinen.
Er beschützte sie, doch sie hatte ihn nicht davor schützen können, sich in Leigh zu verlieben.
Kat fand für Sekunden zurück ins Hier und Jetzt, spürte, dass sie ruhiger atmete. Doch im nächsten Moment trauerte sie wieder um Tommy, sie vermisste ihn, war deprimiert und verzweifelt. Dann ging sie wie so oft zur nächsten Phase über, in der sie sich hasste, genau wie Jacki es gesagt hatte. Es war nicht allein Leighs Schuld, das wusste sie ganz genau.
Sie sollte Frieden schließen.
Atme zehn Mal, atme tief ein und aus, spüre nach, wie der Atem kalt durch die Nasenlöcher hereinströmt. Ein, aus, wie lange noch …
Die Zeitschaltuhr am Herd läutete plötzlich ohrenbetäubend laut.
Viel später in der Nacht, nachdem sie einfach nicht einschlafen konnte, gab sie »Leigh Jackson geb. Hubbel« in die Internetsuchmaschine ein und erfuhr, dass Leigh Einzelanfertigungen von Möbeln machte - natürlich! -, und dann suchte sie nach
dem Ehemann, über den es Hunderte von Einträgen gab. Kat schaute sich einige an, bewunderte die Gebäude ebenso wie sein Gesicht,
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