Wo die Toten ruhen - Psychothriller
hörte aber nur das Knarren des alten Hauses. Während er lauschte, schaute er sich unsicher in dem Raum um, denn er fühlte sich desorientiert, genau wie an jenem ersten Schultag, als er in das falsche Haus gegangen war.
Dieses Haus, ihr Haus, war ganz falsch. Seine Mutter hatte die Couch vor den aus Backsteinen gemauerten Kamin gestellt, was dem langen Raum ein Gleichgewicht und einen Mittelpunkt gab.
Er hörte nichts, war entsetzlich aufgeregt, packte die fremde
Ledercouch an dem einen Ende und hievte sie herum, dann das andere Ende, bis sie richtig stand.
Das war besser. Doch die beiden Sessel und der Couchtisch, die nun wie verlassen irgendwie im Raum herumstanden, brauchten auch einen besseren Platz.
So. Im Dunkeln erinnerte er sich, wie es gewesen war, in diesem Haus zu leben. Er sah gern fern in seinem Schlafzimmer. Er liebte den großen Garten hinter dem Haus, mit der gelben Fingerhirse, die er jeden zweiten Samstag mähte. Er hatte gern gehabt, wie seine Mutter in diesem Haus war. Sie hatte Arbeit in einem Blumenladen. Sie mochte die Leute dort und kam meistens gut gelaunt nach Hause.
Sieben Monate hatten sie hier gelebt.
In diesem Haus hatte seine Mutter Dinge hinter einer Zierleiste in dem kleinen hinteren Schlafzimmer versteckt, das sie als Abstellraum benutzt hatten, von dem aus der L-förmige Flur abging.
Die Tür zum Flur war erfreulicherweise offen, und er trat in die Dunkelheit ein, zu nervös, um die kleine Taschenlampe zu benutzen, die er eingesteckt hatte.
Er tastete sich an der Wand entlang durch den Flur, näherte sich langsam dem Raum und legte leise die Hand an den Türrahmen. Die Tür stand offen. Ein leeres Zimmer wartete auf ihn. Er trat ein und brauchte nur wenige Augenblicke, um seine Mission zu erfüllen.
Hinter der Zierleiste fand er ein weiteres kleines Rechteck aus Plastik. Schockwellen zuckten durch seine Hand, als er es berührte. Ob man sie noch abspielen konnte?
Zurück in den dunklen Flur …
In dem Zimmer rechts schaltete jemand ein Licht an. »Wer ist da?«, schrie eine zittrige Frauenstimme von innen. »Ich habe eine Waffe!«
»Nicht schießen!«, rief er. »Ich verschwinde!«
Ein Schuss drang durch die geschlossene Tür zu dem ehemaligen Schlafzimmer seiner Mutter und ließ die Holzleiste neben seinem Kopf zersplittern.
Als die Haustür sich nicht öffnen lassen wollte, sprang er durchs Fenster.
9
Am Mittwochmorgen fühlte sich Ray, als er im Büro ankam, seltsam lebendig. Man hatte auf ihn geschossen, er war durch ein Fenster gesprungen und mit einigen Kratzern davongekommen. Er hatte eine weitere Trophäe erlangt.
Martin hatte ihn am Morgen auf eine Art begrüßt, die ein Unbeteiligter für liebevoll hätte halten können. In Rays Augen jedoch kam es einem Kotau gleich. »Hey, du siehst aus wie einer, der ein wenig Zuwendung gebrauchen könnte.«
»Mir geht’s gut«, sagte Ray, ohne den Schnitt in seiner Wange zu berühren, der von einer Glasscherbe herrühren musste und äußerst schmerzhaft war.
»Wie ein Penner, der von jemandem verdroschen wurde, der dann auf und davon ist.« Ray wartete darauf, dass Martin ihn fragte, ob Leigh schon nach Hause gekommen sei, doch so dumm war der nicht, sondern er beobachtete, wie Ray in sein Arbeitszimmer ging.
Angesichts des heftigen Streites, den die beiden gehabt hatten, war es bemerkenswert, wie gut ihre Partnerschaft weiterhin funktionierte. Ray führte das hauptsächlich darauf zurück, dass sie viele Jahre Übung darin hatten, ihre persönlichen Probleme von der Arbeit zu trennen.
Mit wehendem Haar und an ihrer Bluse zupfend, die ihren festen Bauch kaum bedeckte, schob Denise den Kopf in Rays Büro und erinnerte ihn daran, seinen Laptop mit nach Hause zu nehmen. Ihr Ehemann war ehemaliger Gedrängehalbspieler an der University of California, Los Angeles, und nicht einmal Martin hatte es je gewagt, sie anzumachen; nicht dass die Gefahr bestand, dass sie seinem oberflächlichen Charme erliegen würde, was Ray stets an ihr bewundert hatte. »Ich habe die Antoniou - Präsentation an eine E-Mail angehängt. Morgen ist der entscheidende Termin.«
Ray nickte.
»Sind wir bereit?«, fragte sie nervös.
»Das sind wir.«
Ihr Auftauchen hatte ihn daran erinnert, was er zu tun hatte. Denise hatte bereits einiges ausgebrütet, und er musste Zeichnungen, schematische Darstellungen und Berechnungen zusammentragen. Er räumte seinen Schreibtisch auf und fühlte sich unsterblich wie ein Teenager und genauso verwegen.
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