Wo die Toten ruhen - Psychothriller
an einer ungepflegten Akazie vorbei auf die Straße spähte.
Als die Sirenen sich entfernten, schloss er die Augen. Seine Atmung setzte wieder ein. Und wie er so dastand und versuchte, mit dem hoch gewachsenen Wacholderstrauch neben dem Geländer zu verschmelzen, traf ihn die Erinnerung wie ein Schlag.
Sie waren im September nach Downey gezogen, also ging er zur Abwechslung einmal zu Anfang des neuen Schuljahrs auf die neue Schule, wenigstens ein kleiner Trost. Trotzdem hatte die Anspannung des ersten Tages in einer neuen Schule ihn ziemlich geschafft. Er stieg aus dem Bus und eilte nach Hause, denn er freute sich auf die Zuflucht vor schon wieder einem neuen Ort und all den neuen Leuten. Er marschierte in das erste gelbe Haus mit braunen Lamellenfensterläden, an dem er vorbeikam, trat ein durch die unverschlossene Haustür, schaute auf und fand sich in einem Alptraum wieder.
Er stand in ihrem neuen Haus, doch es war wie verhext, die Küche war auf der linken statt auf der rechten Seite, die Möbel seiner Mutter, leichte Möbel, mit denen man bequem umziehen konnte, waren ersetzt durch schwere Antiquitäten.
Schockiert konnte er eine Minute lang nichts bewegen bis auf die Augen. Das war sein Zuhause, aber spiegelverkehrt. Sein gegenwärtiges Leben war an einem Tag generalüberholt worden. Fremdes Mobiliar. Seltsame Portraits an den Wänden; ein
Mann mit einem Schnurrbart, Babys in Kleidern. Zuerst verlagerte er das Gewicht seiner Bücher von einer Hüfte auf die andere, als würde dies die Dinge wieder ins Lot bringen, doch die Szene blieb abstrus, spiegelverkehrt, irreal.
War seine Mutter ohne ihn umgezogen?
Hatte sie ihn zurückgelassen?
Sie konnte schnell umziehen, doch selbst sie konnte aus einem Haus mit der Garage auf der linken Seite kein Haus mit der Garage auf der rechten Seite machen. Inzwischen hätte sein Verstand ihm sagen müssen, dass er ein identisch aussehendes Haus mit einem spiegelverkehrten Grundriss in derselben Stra ße betreten hatte, wenige Türen von seinem Zuhause entfernt. Er gehörte nicht auf seine neue Schule. Er gehörte nicht hierher. Wo war sein Zuhause? Es war genauso verloren wie er.
Sein achtjähriges Ich hatte an diesem Nachmittag eine ganze Weile dagestanden, hinter ihm die offene Tür und dahinter in den Vorgärten das Zischen der Rasensprenger. Wo war er? Sie zogen so oft um, dass er es nicht wusste. Er hatte ein fremdes Haus betreten und zweifelte jetzt an allem. War dies die richtige Straße? War er an der falschen Haltestelle aus dem Schulbus gestiegen oder hatte er gar den falschen Bus genommen? Wie sollte er ihr Haus finden? Er wusste es nicht.
Obwohl er am Ende, wahrscheinlich nur wenige Minuten später, natürlich sein Haus fand, das Haus, vor dessen Haustür er jetzt in diesem Moment stand.
Die Sirenen wurden leiser, waren aber immer noch zu hören, chronisch ärgerliche Nörgler, die von Millionen Tonnen Asphalt widerhallten. Sie versammelten sich irgendwo in der Nähe, schoben sich aus verschiedenen Richtungen näher wie ein Haufen müder Kindergärtnerinnen, die sich zu einem kleinen Imbiss versammelten. Ray bekam zwischen dem Nebel einen
Anflug von Rauch in die Nase. Die Fahrzeuge waren unterwegs zu einem Brand in der Nähe, gegen den Wind, doch weit genug weg, dass er sich keine Sorgen machen musste. Gut. Vielleicht würde der Aufruhr auch die Polizei ausreichend vereinnahmen.
Ray blieb noch einen Augenblick hinter dem Wacholder stehen, um seine Schlüssel zu sortieren - die, mit denen er es schon versucht hatte, legte er zur Seite -, und das war, wie sich herausstellte, auch gut so, denn auf der anderen Straßenseite schob jetzt eine Frau mit einem in eine Bettdecke gewickelten Baby, das sich an ihre Brust schmiegte, den Kopf aus ihrer Tür, suchte den Himmel nach Rauch ab und schnupperte. Sie blieb nur wenige Sekunden stehen, bevor sie wieder im Haus verschwand, und schaute nicht mal in Rays Richtung.
Falls die Polizei kommt … ach, mach dir wegen der keine Sorgen. Bleib locker. Er machte sich den Aufruhr in der Nachbarschaft zunutze und steckte verschiedene Schlüssel in das Schloss, dann drehte er den Knauf, der gut geölt war und geräuschlos aufging. Er trat in den vertrauten Flur, schloss leise die Tür hinter sich und lauschte.
Im Wohnzimmer regte sich nichts. Er bewegte sich auf den Essbereich zu, zögerte jedoch, eine Lampe einzuschalten. Waren alle weg? Er wusste es nicht mit Sicherheit. Er stand eine ganze Weile da und lauschte,
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