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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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gesehen, als der Leichenwagen weggefahren ist. Sie hat mir zugewunken, aber ich habe nicht zurückgewunken, weil damals alles für mich so unwirklich war. Ich wache immer noch regelmäßig nachts auf und glaube, den Brandgeruch in der Nase zu spüren. Als ich bei meiner Tante in England war, hab ich sie fast verrückt damit gemacht, dass ich immer steif und fest behauptet habe, meine Jeans, meine T-Shirts, alles würde nach Rauch stinken, obwohl ja alles neu gekauft war. Das Feuer hat in mir etwas abgetötet. An Geraldine hab ich überhaupt nicht mehr gedacht, aber dann saß sie plötzlich da, als ich ins Klassenzimmer kam. Keine Ahnung, warum sie mich jetzt so schneidet. Aber ich glaub, sie ist ganz schön hinter dir her, was?«
    »Hab ich nichts von gemerkt«, meinte ich verlegen.
    »Ich erkenn die Anzeichen, weil sie ja auch mal hinter mir her war. Ich sag dir, die ist total scharf auf dich. Ich hab bei ihr keine Chance mehr, weil sie offensichtlich in mir immer noch den Jungen mit den traurigen Augen sucht, den sie bei der Beerdigung meiner Eltern gesehen hat. Aber, hey, das Leben geht weiter, man muss über seine Trauer hinwegkommen. Ich finde, du solltest auch endlich mal dein Verlustgefühl überwinden.«
    »Wovon redest du?«
    »Na davon, dass du immer noch um deinen toten Vater trauerst.«
    »Ich hab meinen Vater gar nicht gekannt.«
    »Trotzdem denkst du die ganze Zeit an ihn. Ich weiß, wie sich Einsamkeit anfühlt, Joey, weil ich meinen Vater auch verloren habe. Das Leben hat uns beiden schon ganz schöne Tiefschläge versetzt. Aber was machst du, wenn dich jemand in die Magengrube geboxt hat? Du kannst dich zusammenkrümmen und sterben, oder du stehst wieder auf, egal, wie stark deineSchmerzen sind, und zeigst der Welt, dass du es mit ihr aufnehmen willst.«
    Shane stellte sich in der Haltung eines Boxers vor mich hin und boxte mich in die Schulter. »Hey, mach schon! Schlag so fest zu, wie du kannst! Ich steck’s ein.«
    Die Schulter tat mir weh. Ich schlug mit den Fäusten zurück, erst nur spielerisch, dann immer wütender. Er lachte, wehrte meine Fausthiebe ab und verpasste mir eine heftige Ohrfeige. »Du lässt zu viel raus, Joey, du verlierst deine Coolness. Zeig niemals deine Gefühle. Denn dann kann dein Gegner dir in die Seele blicken.«
    Er packte blitzschnell meine Faust, als ich zum nächsten Schlag ausholte. Ich war wütend auf ihn, ohne so recht zu wissen, warum. Vielleicht lag es daran, dass er nicht aufhörte, meinen Vater zu erwähnen, wie um dessen Abwesenheit nur noch deutlicher spürbar zu machen. Als Shane meinen Zorn spürte, näherte er sein Gesicht meinem bis auf wenige Zentimeter, die Gesichtszüge zu einer wilden Grimasse verzerrt. Bei den Lauten, die aus seiner Kehle kamen, handelte es sich um keine Wörter mehr, sondern um ein halb ersticktes, hervorgewürgtes Stammeln, als könnte er nicht mehr sprechen. Sein Blick war flackernd und wirr. Es war furchteinflößend und unheimlich. Aber er schaffte es nicht, diese Maske lang durchzuhalten, dann musste er über sich selbst lachen und ich stimmte erleichtert ein.
    »Zieh dieses Gesicht doch mal in Geschichte«, sagte ich, »und ich bin mir sicher Bongo Drums Quinn kriegt einen Herzinfarkt.«
    Es klingelte. Die große Mittagspause war gleich vorbei. Ich wollte die gute Stimmung nicht gleich wieder verderben, aber was Geraldine mir erzählt hatte, wollte mir einfach nicht aus dem Kopf.
    »Warum bist du aus Leeds wieder hierher zurückgekommen?«, fragte ich.
    »Hast du jemals Leeds United spielen sehen? Würdest du wirklich dein Leben lang Fan von einer so miesen Fußballmannschaft sein wollen?«
    »Du hast mir erzählt, dass deine Tante krank geworden ist.«
    »Ja, stimmt, hab ich gesagt.«
    »Ich hab gehört, das stimmt gar nicht. Sie soll gestorben sein.«
    Shanes Antwort kam ganz locker, aber er hatte mich kurz misstrauisch gemustert. »Und was ist groß dran, wenn sie tatsächlich tot ist?«
    »Aber warum solltest du mich da anlügen?«
    »Steckt Geraldine dahinter? Sie hatte schon immer so einen Wahrheitsfimmel. Sah sich gern als Schnüfflerin und Detektivin.«
    »Ist es wahr?«
    Shane wartete ab, bis die Schüler, die an uns vorbei in ihr Klassenzimmer zurückdrängten, weitergegangen waren. »Meine Tante ist vor drei Monaten bei einem Autounfall gestorben. Ein Frontalzusammenstoß mit einem Laster. Sie fuhr auf der Autobahn auf der falschen Seite.«
    »Und warum erzählst du den Leuten dann, dass sie krank ist?«
    »Was

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