Wo die verlorenen Seelen wohnen
hochgehen.«
Das hatte Shane jetzt tatsächlich erfunden, aber Geraldine blickte ihn seltsam an, stieg im Dunkeln rasch die Treppe hoch, setzte sich auf die oberste Stufe und sah dann zu ihm hinunter. Er wusste, ihm blieb nichts anderes übrig, als ihr zu folgen, und er begriff erst jetzt, dass sie seit Wochen darauf gewartet hatte, endlich von ihm geküsst zu werden. Langsam ging er Schritt für Schritt nach oben und bemühte sich, dabei möglichst cool zu wirken. Aber er wusste, dass ihm das nicht gelang. Als er auf der obersten Stufe angekommen war, machte sie ihm Platz. Sie saßen beide da und blickten in der Eingangshalle umher, die durch das schmale Oberlicht über der verschlossenen Haustür spärlich erhellt wurde. Eine halb verfallene Holztreppe führte hoch in die Zimmer im ersten Stock. Shane fröstelte – nicht nur, weil es hier drinnen kalt und dunkel war, sondern auch wegen des merkwürdigen Gefühls, hier im Traum schon einmal gewesen zu sein. Geraldine lächelte ihn an.
»Vielleicht bist du doch kein solcher Feigling und Schlappschwanz«, sagte sie.
»Man kann sagen, dass wir die Spurensuche in diesem Fall erfolgreich abgeschlossen haben«, sagte er, »Lass uns die Sache zu den Akten legen.«
»Einverstanden«, sagte Geraldine. »Zeit für D.E.K.«
»Wofür?«
Geraldine lachte. »Warum sind Jungs nur so dumm? Du hast wirklich von nichts eine Ahnung. Zeit für den ersten Kuss.«
Dann hörte sie auf zu lachen und ihre Augen blickten ernst. Shane und sie hatten ihre Mutprobe bestanden. Zwar hatten sienicht das ganze Haus durchsucht, aber sie waren viel mutiger als Simon Wallace gewesen. Sie hatten sich ihren ersten Kuss verdient und vielleicht auch ihren zweiten und ihren dritten und danach würden sie die Treppe hinunter zurück in die Küche gehen, durch das Fenster hinaus und über die Mauer klettern und dann lachend Hand in Hand die Rock Road entlangrennen, endlich ein richtiges Paar. Shane beugte sich vor, um Geraldine zu küssen, und ihre Lippen berührten sich schon fast, da hörten sie es: ein schwaches, knisterndes Geräusch, Fetzen von leiser Jazzmusik, irgendwo im Haus.
Die Musik verlor sich in dem Knistern, als würde jemand bei einem alten Radio nach einer besseren Einstellung suchen. Dann kam sie wieder, lauter und klarer diesmal – mit einem schwermütigen Klarinettensolo. Alle Gedanken an einen Kuss waren wie weggeblasen. Geraldine wollte fort, aber Shane hörte der Musik wie hypnotisiert zu. Natürlich war das völlig unsinnig, aber er hatte das Gefühl, wenn er nur die richtige Tür öffnete, würde er die Geister seiner Großeltern sehen können, wie sie langsam zu der Musik tanzten, im selben Alter wie er jetzt.
Auf Zehenspitzen schlich er über die Holzdielen der Eingangshalle. Geraldine rief ihm flüsternd nach, dass er zurückkommen solle, aber er hörte nicht auf sie. Und schließlich folgte sie ihm, da sie nicht allein bleiben wollte, vorbei an der Treppe und einen schmalen Flur entlang bis zu einer Tür, die einen kleinen Spalt offen stand. Licht drang daraus hervor, so schwach, dass sie es vorher nicht bemerkt hatten. Jemand war in dem Raum.
Shane blieb vor der Tür stehen, gebannt von dem Licht und der Musik. Geraldine stand jetzt neben ihm und gemeinsam spähten sie durch den kleinen Spalt in das Zimmer hinein. Sie sahen dort keine Stapel gestohlener Banknoten oder Säckemit Heroin, sondern nur einen Greis, der sich über einen alten Radioapparat beugte. Die Flammen der beiden Kerzen, die auf zwei leere Flaschen aufgesteckt waren, leuchteten so schwach, dass kein Lichtschimmer durch das verschmutzte Laken drang, das er vor das Fenster gehängt hatte, damit die Außenwelt nichts von seiner Anwesenheit erfuhr. Sie starrten auf seine wenigen Besitztümer: ein paar Bücher, ein Gaskocher und ein Topf, ein Schlafsack auf einer alten Matratze, zwei Fläschchen mit Medikamenten, ein abgenutzter Lehnstuhl, ein halber Laib Brot, eine Kaffeekanne und ein paar angeschlagene Teller und Tassen.
Der alte Mann hatte ihnen den Rücken zugekehrt. Er drehte immer noch an dem Radio, um den Empfang zu verbessern. Dann stand er auf, legte seinen Kopf wie in Trance zurück und begann zu tanzen, langsam, wie in Zeitlupe. Er lachte, während er sich um sich selbst drehte. Eine Minute lang schienen seine alten Glieder der Zeit und der Schwerkraft zu trotzen. Dann stolperte er und fiel rückwärts hin. Geraldine und Shane waren zu erschrocken, um sich zu rühren. Mit geschlossenen Augen
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