Wo die verlorenen Seelen wohnen
zusammen entspannter als sonst. Natürlich war er kein Flüchtling und an seinem einundzwanzigsten Geburtstag würde er ein Vermögen erben. Aber auch er hatte keine Familie mehr, und wenn er nachts aus einem Albtraum hochschreckte, war keiner da, der ihn trösten konnte.
Als wir alle zusammen die Henry Street entlanggingen, hatte ich das Gefühl, in einer völlig anderen Welt zu sein. Einige Jungs konnten ganz gut Englisch, andere beherrschten nur ein paar Wörter oder hatten eine so seltsame Aussprache, dass ich sie kaum verstand. Die Türsteher vor den Bars beäugten unsmisstrauisch. Wir kamen zu dem riesigen Kinokomplex an der Parnell Street, dessen Stufen voller Leute waren, die sich einen Film angucken wollten. Aber das Geld für eine Kinokarte hatten von uns wohl nur wenige übrig, und selbst wenn, wäre es wahrscheinlich sehr schwierig geworden, sich auf einen Film zu einigen.
Niyi, der Jüngste aus der Gruppe, setzte sich mit seinem MP 3-Player auf eine der Stufen und hörte still Musik, während die anderen herumstanden und in allen möglichen Sprachen quasselten. Er gehörte zwar zur Gruppe, schien aber trotzdem ganz in seiner eigenen Welt zu leben. Ich setzte mich neben ihn, weil ich mich auch verloren fühlte. Niyi beachtete mich zuerst nicht, aber dann zog er seine Ohrstöpsel heraus und reichte mir schweigend einen davon. Den anderen steckte er in sein rechtes Ohr, und gemeinsam hörten wir die Rap-Musik, die er auf volle Lautstärke gestellt hatte.
Ein Security-Mann tauchte aus einer Glastür auf und verscheuchte uns. Widerwillig setzten sich die anderen in Bewegung, nicht ohne den Typen wild zu beschimpfen. Niyi stand auf und ich mit ihm. Die Köpfe zueinandergesteckt, mit den Fingern die Ohrstöpsel festhaltend, damit sie nicht verrutschten, folgten wir den anderen. Wir gingen die Capel Street entlang. Als der Song vorbei war, zog Niyi seinen Ohrstöpsel heraus und ich machte es ihm nach. Er nahm ihn schweigend entgegen, ohne sich darum zu kümmern, dass wir inzwischen ein Stück hinter den anderen zurückgeblieben waren. Aus dem Pub an der nächsten Ecke dröhnte Musik. Vor dem Türsteher hatte sich eine lange Schlange gebildet. Ein paar Häuser weiter leuchtete mir im Schaufenster eines Musikladens eine blaue Gitarre entgegen, die ziemlich teuer aussah. Aber ich konnte nicht länger stehen bleiben, um sie zu bewundern. Niyi war bereits ein paarSchritte voraus, er beeilte sich jetzt, weil er die anderen nicht ganz aus dem Blick verlieren wollte. Als ich wieder neben ihm war, brach er sein Schweigen.
»Also er dich auch gefunden.«
»Wer?«
»Shane.«
»Und warum gefunden?«
»Bevor er mich finden, ich nie gehen aus in der Dunkelheit. Zu viel Angst. Ich kennen niemand und draußen immer kalt. Auch irische Menschen hinter ihren Lächeln kalt. Meine Mutter mich gewarnt, sei wachsam!«
»Wovor?«
»Vor allem.«
»Wo ist deine Mutter jetzt?«
Er musterte mich plötzlich feindselig. »Bist du bei Polizei?«
»Nein, ich hab nur so gefragt.«
»Nicht fragen.«
Wir gingen schweigend weiter, weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte. Vor uns drängelten sich die anderen dicht nebeneinander auf dem Bürgersteig, schubsten sich, kickten eine leere Dose die Straße entlang. Ich hörte Shane in ihrer Mitte laut lachen. Ich hatte mir bisher nie vorzustellen versucht, wie es sich wohl anfühlte, in einem finsteren Container lebendig begraben zu sein, auf einem Schiff um die halbe Welt unterwegs, ohne zu wissen, ob man jemals wieder das Tageslicht sieht. Und dann in einem völlig fremden Land anzukommen, in dem man keine Menschenseele kennt. Kein Wunder, dass Niyi so still und misstrauisch war.
»Entschuldigung, war wohl eine blöde Frage«, sagte ich.
»Du schon in Ordnung«, meinte er achselzuckend.
»Woher kennst du Shane?«
»Er an meine Tür in Dún Laoghaire klopfen, eines Abends. Ich liegen auf dem Bett und hören Musik. Niemand an meine Tür klopfen, deshalb ich weiter auf dem Bett liegen, aber er nicht weggehen, bis von mir Antwort. Shane mich anlächeln und sagen: ›Komm mit, du kannst nicht jeden Abend hier drin bleiben.‹ – ›Wer zum Teufel du sein?‹, ich fragen. ›Was zum Teufel du wollen? Woher zum Teufel du kommen?‹ Aber er nur lächeln und sagen: ›Lass uns losziehen, mal ein bisschen frische Meeresluft.‹ Zuerst er mir Angst machen – was er wollen, ich mich fragen –, aber er ist guter Junge. Verrückter Junge, aber gut. Durch ihn die anderen
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