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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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kennenlernen.«
    »Sind sie auch in Ordnung?«
    »Sind okay. Ich jetzt am Abend unterwegs, nicht mehr immer allein. Aber immer noch nicht wissen, warum Shane bei mir geklopft. Sonst nur Sozialarbeiter klopfen und stellen Fragen.«
    Die anderen waren bereits am Ende der Straße angelangt und warteten an der Ampel darauf, auf die Capel Street Bridge hinüberzukommen. Neben ihnen standen drei Mädchen in engen schwarzen Minikleidern, die sich für den Abend total rausgeputzt hatten. Alle lachten miteinander. Es herrschte starker Verkehr, aber auch viele Fußgänger waren unterwegs. Wenn die Ampel jetzt auf Grün schaltete, würden die anderen vor uns über der Brücke sein und dann würden wir sie wahrscheinlich verlieren.
    »Sollen wir rennen, um deine Freunde einzuholen?«, fragte ich.
    »Das sind nicht meine Freunde. Nur Shane ist mein Freund.«
    Im Verkehrsstrom tat sich eine Lücke auf und die Mädchen beschlossen, die Straße auch bei Rot zu überqueren. Mit gespieltem Gekreische rannten sie los. Trotz des lauten Gehupes bestand keine wirkliche Gefahr, bis ein Mädchen in ihren High Heels stolperte. Sie stand gleich wieder auf, doch der Scheinwerfer des auf sie zukommenden Autos verwirrte sie. Der Fahrer versuchte eine Vollbremsung, aber zu spät. Der Körper des Mädchens wurde durch die Luft geschleudert und blieb reglos auf dem Asphalt liegen. Ich starrte auf das Mädchen, dann auf den Schuh ein paar Meter weiter. Der Verkehr war zum Stillstand gekommen und es schien fast, als hätte das Leben angehalten. Die Freundinnen des Mädchens fingen an zu schreien und die Leute rannten auf die Straße.
    Der Autofahrer stieg aus und sackte dann zitternd in sich zusammen. Als ich die Mitte der Straße erreichte, hatte sich um das Mädchen ein Kreis gebildet. Ihre Freundinnen schluchzten. Die Leute wussten nicht, was sie tun sollten. Als Shane ein paar Schritte nach vorn machte, hielt keiner ihn auf, weil er eine ruhige Autorität ausströmte. Er kniete sich neben das Mädchen und fühlte ihren Puls. Dann beugte er sich vor und flüsterte ihr etwas ins Ohr. Das Gemurmel der Schaulustigen ringsum wurde allmählich lauter, trotzdem konnte ich hören, was Shane gesagt hatte. Ich verstand die Worte nicht, weil es Latein war, aber ich begriff, dass er feierlich verkündete, für die Seele der Dahingeschiedenen beten zu wollen. Als er den Kopf wieder hob, bewegte er murmelnd die Lippen. Alle ringsum schienen sofort zu begreifen, denn sie schwiegen auf einmal, und als er geendet hatte und aufstand, schlugen viele ein Kreuz.
    In der Ferne war die Sirene eines Krankenwagens zu hören. Ein Polizist auf dem Motorrad tauchte auf und übernahm die Regie. Er winkte ein paar Autos zur Seite, damit der Krankenwagen passieren konnte. Die Aufmerksamkeit der Leute war nicht länger auf Shane gerichtet. Die anderen Jungen wolltenschleunigst weg – keinesfalls wollten sie in irgendeiner Weise mit dem Unfall in Verbindung gebracht werden. Am Ende würde man sie noch zu Schuldigen machen. Für mich war es das erste Mal, dass ich jemand hatte sterben sehen. Ich zitterte am ganzen Körper. Ich wünschte mir, meine Mutter wäre da, um mich in den Arm zu nehmen. Schweigend überquerten wir alle die Brücke. Auf der anderen Seite standen wir noch eine Weile bei der Wikingerboot-Skulptur herum. Wir hatten alle einen Schock. Einer nach dem anderen verschwanden die Jungs, bis nur noch Shane und ich übrig waren und Niyi, der wieder seine Ohrstöpsel aufgesetzt hatte. Shane berührte ihn an der Schulter, und als Niyi sie abnahm und hochschaute, bemerkte ich, dass er weinte.
    »Beeil dich, damit du den letzten Zug nach Dún Laoghaire noch erwischst«, sagte Shane leise. »Alles wird gut. Vertrau mir.«
    »Ich jemand vertrauen?« Niyi schüttelte den Kopf und wollte schon weggehen, da drehte er sich noch einmal um und sagte: »Aber ich dir vertrauen. Versprochen, du mich anrufen?«
    Shane nickte und ich blickte Niyi nach, als er mit herabhängenden Schultern davonschlurfte.
    »Wie hast du sie denn alle kennengelernt?«, fragte ich. »Niyi, zum Beispiel.«
    Shane zuckte mit den Schultern. »Schiffbrüchige. Das sind sie alle.«
    »Und was bist dann du?«
    »So etwas wie ein Strandgutsammler. In Blackrock gab es immer Leute, die sich damit ihren Lebensunterhalt verdienten. Jahrhundertelang. Sie durchkämmten die Küste nach angeschwemmtem Holz, nach Stoffballen und was auch immer, hielten Ausschau nach aufgelaufenen Schiffswracks, die sie nacheinem Sturm

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