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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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lag der alte Mann reglos auf dem Rücken, und sie hatten keine Ahnung, ob er lebte oder tot war.

V IERZEHNTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    S hane und ich mussten nicht lange warten, dann kam ein 46A-Bus und nahm uns mit nach Dublin hinein. Weil mein Akku leer war, konnte ich Mum nicht anrufen, um ihr zu sagen, dass ich mit Shane noch etwas um die Häuser zog, und es war zu peinlich, Mrs Higgins zu fragen, ob ich ihr Telefon benutzen dürfe. Shane hatte kein Handy, als Einziger in der ganzen Klasse. Keine Ahnung, warum. Als wir in der O’Connell Street ausstiegen, hatten die großen Geschäfte alle schon geschlossen, nur noch Spielhöllen und Fast-Food-Restaurants waren geöffnet. Um die Uhrzeit musste man aufpassen. In den Hosentaschen nach Geld zu wühlen oder einfach nur verloren herumzustehen konnte schon Anlass genug sein, um zum Opfer gemacht zu werden.
    Eine Gruppe von Jugendlichen hatte sich unter der Säulenhalle des General Post Office versammelt. Ihr Alter reichte so ungefähr von zwölf bis achtzehn und sie stammten von überall her: Afrika, Asien, Osteuropa. Als wir näher kamen, hörten sie zu reden auf. Meine Überlebensinstinkte sagten mir, dass ich den Augenkontakt vermeiden und mich so unsichtbar wie möglich machen sollte. Mir gefiel ihr bedrohliches Schweigen nicht, aber wenn wir es schafften, einfach an ihnen vorbeizugehen, ohne sie durch irgendetwas zu provozieren, dann war die Gefahr vorbei.
    Doch Shane steuerte direkt auf sie zu, drängte sich zwischen sie, schob den Größten von ihnen, einen schon etwas älteren schwarzen Jugendlichen, mit der Schulter einfach zur Seite. Der andere richtete sich auf, musterte ihn und stieß Shane mit beiden Händen weg. Plötzlich waren wir von lauter fremden Gesichtern umringt. Aber von mir nahm niemand Notiz. Alle stürzten sich auf Shane. Er schubste und boxte aggressiv weiter. Seine Gesten, sein ganzer Auftritt, die Namen, mit denen er sie beschimpfte – er legte einen Auftritt hin wie ein Gangsta Rapper. Die anderen reagierten ebenfalls aggressiv, es war eine deutliche Spannung zu spüren. Fußgänger, die zufällig vorbeikamen, machten einen weiten Bogen um uns, sie wollten auf keinen Fall in eine Sache hineingezogen werden, die jeden Augenblick in eine hässliche Schlägerei ausarten konnte. Mit seinen Ellenbogen kämpfte sich Shane genug Platz frei, um wie ein Boxer die Fäuste vors Gesicht halten zu können. Er duckte sich, tänzelte, ließ die Fäuste ins Leere nach vorne schießen und sagte dazu etwas in einer fremden Sprache, das den großen schwarzen Jugendlichen, bestimmt ihr Anführer, laut auflachen ließ. Die anderen fingen auch laut und übermütig zu lachen an und plötzlich sah ich sie alle mit ganz anderen Augen – nicht mehr als gefährliche Bande, sondern einfach nur als Jungs, die miteinander rumhingen, sich gegenseitig aufzogen und ihre Späße machten. Shane legte mir den Arm um die Schultern.
    »Das hier ist mein Kumpel Joey Kilmichael, er geht mit mir in dieselbe Klasse. Ich sag euch, der kann Gitarre spielen! Joey, das sind die Jungs.«
    Joey stellte mir einen nach dem anderen vor und sie begrüßten mich nacheinander mit Handschlag. Aber ich konntemir unmöglich alle Namen auf einmal merken oder die Länder, aus denen sie herkamen. Zuerst dachte ich, sie hätten überhaupt nichts gemeinsam, aber dann wurde mir klar, dass sie alle ihre Familien verloren hatten. Sie waren als Kinderflüchtlinge allein nach Irland gekommen. Irgendwann musste ihren Eltern in Zaire oder Somalia klar geworden sein, dass sie als ganze Familie keine Chance auf Asyl in Europa hatten, aber ein einzelnes Kind, so ihre Hoffnung, würde kein Land zurückweisen. Sie waren alle mit dem Schiff nach Irland gekommen. Manche erinnerten sich noch daran, dass ihre Eltern Kuriere bezahlt hatten, die sie dann in finstere Container einsperrten, in denen sie auf ein Schiff verladen wurden. Andere behaupteten, sich an nichts zu erinnern. Vielleicht, weil sie sich tatsächlich nicht erinnerten, vielleicht aber auch nur, weil ihre Eltern ihnen gesagt hatten, der sicherste Weg zu überleben, sei, alles zu vergessen. Wenn man nämlich keinen Namen und keine Herkunft hatte, konnte man auch nirgendwohin zurückgeschickt werden.
    Die irische Regierung sorgte dafür, dass sie Essen und Kleidung bekamen, in die Schule gingen und in Heimen untergebracht waren. Aber ein Zimmer in einem Heim ist kein Zuhause, deshalb trafen sie sich jeden Abend. Auch Shane wirkte mit ihnen

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