Wo die verlorenen Seelen wohnen
dich nicht so erschrecken dürfen.«
»Ich hab keine Angst«, sagte Geraldine, während sie sich mit Shane unauffällig in den Gang zu verziehen versuchte.
»Ich bin nur einfach keine Besucher gewöhnt«, sagte der Greis. »Mir ist meine Ruhe wichtig. Außerdem muss ich mich hier erst wieder eingewöhnen. Lange her, seit ich das letzte Mal zu Hause war.«
»Ist das wirklich Ihr Zuhause?«, fragte Shane. Auf einmal merkte er, dass der alte Mann sein Gesicht besonders aufmerksam anschaute. »Warum schauen Sie mich so an?«, fragte er verwirrt.
»Ich hab das Gefühl, als würde ich einem alten Freund wiederbegegnen.«
»Ich kenne Sie nicht.«
»Nicht du, dein Gesicht. Ich hab dein Gesicht schon mal gesehen. Ja, das ist mein Zuhause, aber es steht seit vielen Jahren leer. Seid ihr zwei vielleicht schon häufiger hier gewesen?«
»Wir waren noch nie hier«, sagte Geraldine schnell. »Ein anderer Junge hat uns erzählt, dass er heute Nachmittag durchs Fenster was gesehen hat.«
Der alte Mann nickte. »Ich hab jemand im Garten rumschleichen sehen, aber ich wusste, dass sie ihn ganz bestimmt nicht geschickt hatten. Er wirkte viel zu lasch, um für sie von Nutzen zu sein.«
»Wovon reden Sie?«, fragte Shane beklommen. »Und woher kommt Ihnen mein Gesicht bekannt vor?«
»Ich weiß es nicht. Aber dein Gesicht wird noch in mir auftauchen«, sagte der alte Mann. »Das tun die Gesichter immer. Sie hören nicht auf, an meinem inneren Auge vorbeizuschweben. Es war unachtsam von mir, mich zu zeigen. Aber ich hatte nicht damit gerechnet, dass dieser junge Mann mich bemerken oder sich später noch an mich erinnern würde, weil durch eine leere Whiskeyflasche die Welt immer merkwürdig verzerrt und unscharf aussieht. Ich weiß, wovon ich rede.Schließlich war ich das schwarze Schaf einer ehemals sehr respektablen Familie in Blackrock.«
»Die Leute erzählen sich alles Mögliche von dem Haus«, sagte Geraldine. »Es sollen hier zwei Brüder gelebt haben.«
»Ja«, antwortete der Mann. »Das waren meine beiden Brüder. Sie haben ihr ganzes Leben lang unter einem Dach gelebt, doch die letzten dreißig Jahre haben sie kein Wort mehr miteinander gesprochen. Jetzt liegen sie vereint im Grab bei meiner Mutter.«
»Die Leute erzählen sich, dass in diesem Haus Gespenster umgehen«, sagte Geraldine.
Der Mann lächelte. »Glaubst du an Gespenster?«
»Nein.« Trotzdem schauderte es Geraldine unwillkürlich. »Nicht am helllichten Tag jedenfalls.«
»Und nachts, da bist du dir nicht so sicher?«
»Sie sind aber kein Geist, oder?«
Der alte Mann lachte. »Ich heiße Thomas McCormack. Ich habe nie in meinem Leben ein Gespenst gesehen, obwohl ich oft auf Friedhöfen geschlafen habe, während ich auf Wanderschaft durch Amerika war.«
»Waren Sie ein Tramp?«, fragte Shane.
Der Mann lächelte. »Ja, so nennt man das wohl. Aber sind wir nicht alle Wanderer auf Erden, bis Gott unsere Seelen zu sich ruft? Ja, ich habe Jahrzehnte zwischen den Heimatlosen und Wanderarbeitern gelebt, den Obdachlosen, den Säufern und Drogenabhängigen. Und wenn sie mich darum gebeten haben, habe ich ihnen die Beichte abgenommen und sie mit den Sterbesakramenten versehen, wenn sie im Sterben lagen.«
»Also sind Sie ein Priester?«, fragte Geraldine.
»Nein. Obwohl die Nachbarn das Knie beugten, als sie sich damals zu meinem Abschied vor dem Haus versammelten.Ich ging fort, um für das Priesteramt zu studieren. Ich war ein rechter Prahlhans und Aufschneider, alle blickten zu mir auf.«
»Was ist dann geschehen?«, fragte Shane.
»Manchmal muss man von zu Hause fort, um herauszufinden, wer man wirklich ist«, antwortete der alte Mann. »Vor langer Zeit hat mir jemand erzählt, dass in jedem von uns Dutzende von Persönlichkeiten stecken – gute wie böse –, die darauf warten, sich zeigen zu dürfen. Bei mir hat im Verlauf der Jahrzehnte jede dieser Persönlichkeiten ihre Chance bekommen. Beantwortet das Ihre Frage, junger Master O’Driscoll?«
»Woher kennen Sie meinen Nachnamen?«, fragte Shane erschrocken.
»Ich hab dir doch gesagt, dein Gesicht würde schon noch vor meinem inneren Auge auftauchen. Allerdings hat es eine Weile gedauert, weil ich in deinen Gesichtszügen auch noch etwas von den O’Learys entdecke.«
»O’Leary war der Nachname meiner Großmutter.«
»Und sie stammte aus Blackrock?«
»Ja. Mein Großvater auch.«
»Und er war ein O’Driscoll?«
Shane war merkwürdig erregt und fühlte sich zugleich äußerst unwohl.
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