Wo die verlorenen Seelen wohnen
plündern konnten. Ich sammle anderes Treibgut. Nicht Brennholz, sondern Seelen, die vom Ozean des Lebens angespült wurden.«
»Was zum Teufel soll das denn heißen?«
Shane blickte mich einen Augenblick an, als wollte er darauf wirklich etwas sagen, doch dann lachte er nur. »Gar nichts. Reiner Unsinn.«
»Wirklich? Und woher kennst du die lateinischen Gebete, die du vorhin bei dem Mädchen gemurmelt hast?«
Shane wirkte belustigt. »Wie kommst du drauf, dass ich Latein kann?«, fragte er achselzuckend. »Vielleicht weiß ich ja nicht mehr als diesen einen Satz. Als ich klein war, wollte ich Priester werden. Schon erstaunlich, was man alles behält, wenn man früher mal Ministrant war.«
»Aber lateinische Messen werden schon seit ewigen Zeiten nicht mehr gelesen.«
Shane verdrehte die Augen. »Von Geschichte hast du keine Ahnung, aber in Religion, da bist du plötzlich der Experte, was? Komm, lass uns weiter!«
»Aber fährt jetzt nicht bald der letzte Bus?«
»Du enttäuschst mich, Joey. Ein Mädchen ist gerade vor unseren Augen gestorben und dir fällt darauf nichts Besseres ein, als nach Hause zu gehen?«
Shane drehte sich um und schien zu stolpern, denn er fiel rückwärts der Länge nach hin. Mit geschlossenen Augen lag er auf dem Rücken da und ich hatte schon Angst, er könnte auf dem Pflaster einen Schädelbruch erlitten haben. Aber als ich mich erschrocken über ihn beugte, schlug er plötzlich die Augen auf, grinste und schnippte mit den Fingern. »Das Leben kann von einem Moment auf den anderen vorbei sein, einfach so. Da will vielleicht sogar ein Stubenhocker wie du vorhernoch mal was erleben. Also, bist du ein Schlappschwanz oder ein richtiger Mann?«
Damit kam er wieder auf die Füße und schlenderte am Flussufer entlang davon, ohne sich noch einmal nach mir umzudrehen. Ich wusste genau, dass er mich testen wollte und abwartete, ob ich ihm folgen würde.
F ÜNFZEHNTES K APITEL
S hane
A UGUST 2007
M ehrere Momente lang starrten Geraldine und Shane auf den alten Mann, der vor ihnen auf dem Boden lag. Dann schlug der Greis plötzlich die Augen auf und lächelte verschmitzt, als hätte er ihnen einen Streich gespielt. Er musterte sie ausführlich von unten, streckte einen Arm in einer etwas schiefen Willkommensgeste aus und murmelte etwas in einer Sprache, die keiner von beiden verstand. Als er ihre Verwirrung bemerkte, lächelte er wieder. »Mein Latein ist etwas eingerostet«, sagte er. »Es lautet ungefähr: ›Herzlich willkommen bei mir zu Hause, sagte die Spinne zur Fliege.‹«
Shane wollte davonlaufen, aber seine Füße gehorchten ihm nicht. Geraldine dagegen machte einen Schritt auf den Mann zu.
»Was machen Sie hier?«, fragte sie mit einer Stimme, die möglichst erwachsen klingen sollte.
»Was ich hier mache?« Der alte Mann blieb liegen, aber er schien keine Schmerzen zu haben. »Zufällig lebe ich hier. Das ist mein Haus. Ich wurde hier geboren. Darf ich euch also dieselbe Frage stellen? Was macht ihr hier?«
»Wir wussten nicht, dass hier jemand wohnt«, antwortete Geraldine.
»Und was wollt ihr hier?«
»Uns nur etwas umgucken, einfach so«, sagte Shane. »Wir haben so was wie einen Club gegründet.«
»Was für einen Club denn?«
»Wir wollen Rätsel und Geheimnisse aufklären.«
Shane spürte im selben Augenblick, wie dumm diese Antwort wirken musste. Aber ihm fiel nichts anderes ein. Der alte Mann ging jedoch ernsthaft darauf ein. »Und habt ihr welche aufgeklärt?«, fragte er, während er langsam aufstand.
»Nein«, gestand Geraldine. »Sie sind unser erster Fall.«
»Wer hat euch hergeschickt?« Die Stimme des Greises klang eine Spur härter.
»Niemand«, sagte Shane.
»Ganz sicher?« Der Mann blickte auf einmal nervös umher. »Woher wisst ihr, dass sie euch nicht benutzen?«
»Wer denn?«
»Wenn ihr mit eurer Erkundungstour hier fertig seid, für wen schreibt ihr dann euren Bericht?«
»Für niemanden«, mischte sich Geraldine ein. Die seltsame Spannung, die auf einmal im Raum spürbar war, gefiel ihr nicht. »Nur so zum Spaß. Außerdem wissen wir doch noch gar nichts, was wir über Sie berichten könnten.«
»Nein, tut ihr nicht.« Der Mann lachte, aber in dem Lachen war eine fürchterliche Einsamkeit zu spüren. »Doch einem dunklen Geheimnis könntet ihr da schon auf der Spur sein.«
Geraldine blickte sich im Zimmer um und schauderte. Der alte Mann ließ sich in dem Lehnstuhl nieder. »Tut mir leid.« Er lächelte entschuldigend. »Ich hätte
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