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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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Klasse nicht angeben würde, vor allem wo Mum doch so viele Hebel in Bewegung gesetzt hatte, damit ich auf diese Schule wechseln konnte. Noch mehr Ärger mit mir hatte sie wirklich nicht verdient.
    Ich betrat das Klassenzimmer, in dem wir gleich unsere Geschichtsarbeit schreiben würden. Shane war bereits da, meine Schultasche lag an meinem Platz. Zuerst schien mir, dass er mich nicht weiter beachtete. Er kritzelte etwas auf einen Zettel. Dann kam er zu mir.
    »Hier sind noch mal die Jahreszahlen, mit denen du Probleme hattest. Merk dir ein paar davon und Bongo Drums wird dich für ein Genie halten.«
    Er gab mir eine Liste mit fein säuberlich verzeichneten Jahreszahlen. In seinen Gesichtszügen war nichts mehr von der gestrigen Wildheit zu erkennen, nur eine fast elterliche Fürsorge. Keiner aus unserer Klasse würde ihm abnehmen, dass er vor wenigen Stunden die Dinge getan hatte, die ich mit ihm erlebt hatte, und ich begriff, dass er davon auch niemandem erzählen würde. Das wilde Treiben von vergangener Nacht war wie in eine Schublade weggesperrt. Wie viele solcher Schubladen es wohl in Shanes Leben gab? Ich musste daran denken, wie er sich selbst beschrieben hatte: als jemand, der menschliches Treibgut sammelt, angeschwemmte Seelen – schon eine sehr merkwürdige Vorstellung. Was für ein trostloses Bild, eine einsame Gestalt am Meeresrand, die den Horizont absucht, ob nicht Strandgut angespült wird; die in den Bruchstücken und Überresten des Lebens von anderen Menschen herumwühlt.
    Dann betrat Bongo Drums das Klassenzimmer, verteilte Blätter und verkündete, dass die Klassenarbeit in zwei Minuten anfangen würde. Ich konzentrierte mich nur noch auf die Liste mit den Jahreszahlen, die Shane mir gegeben hatte, und versuchte, mir so viele wie möglich einzuprägen.
    Erstaunlicherweise konnte ich fast jede Jahreszahl geschickt in eine der Antworten auf Bongo Drums Fragen einflechten, als hätte Shane das alles vorausgesehen. Konnte er etwa Gedanken lesen? Ich hatte noch nie bei einer Arbeit so viele Seiten füllen können, weil mir alles, was ich gestern Abend bei Shane gelernt hatte, noch ganz frisch im Gedächtnis war. Mitten während der Stunde drehte sich Geraldine kurz zu mir um und lächelte mich an. Einen Augenblick lang vergaß ich die Geschichtsarbeit völlig. Die Sonne fiel auf ihre Haare, sodass sie schwarz glänzten, und ihre Haut schimmerte weiß. Sie merkte, wie ich sie anstarrte und machte leise tzz-tzz, weil ich mich lieber wieder auf die Schulaufgabe konzentrieren sollte. Aber sie errötete auch ein wenig und blickte schnell weg, und da wusste ich, dass ich sie liebte.
    Als es klingelte, atmeten alle erleichtert auf und fingen an, durcheinanderzuquatschen. Später in der Pause bekam ich die Erlaubnis, mir draußen vor der Schule in dem Laden an der Ecke was zu trinken zu kaufen, weil ich ausnahmsweise nichts dabeihatte. Ich kaufte mir eine Dose Cola und trank sie auf dem Weg zurück in die Schule gleich aus, als ich auf einmal spürte, dass ich von jemandem beobachtet wurde. Ich drehte mich um und bemerkte, dass mir ein alter Mann folgte. Er schaute mich mit durchdringendem Blick an und humpelte dann, auf einen Stock gestützt, näher, bis er Auge in Auge vor mir stand. Er trug einen langen schwarzen Mantel und einen alten Hut. Seine Augen waren blutunterlaufen.
    »Sag deinem Freund, ich will es zurück«, zischte er.
    »Wie bitte?«
    »Du hast mich schon verstanden. Sag ihm, ich lass mich nicht länger um etwas betrügen, was mir rechtmäßig gehört.«
    Autos fuhren die Straße entlang, andere Schüler rannten an mir vorbei, um vor dem Klingeln rechtzeitig wieder im Klassenzimmer zu sein, aber nie hatte ich mich einsamer gefühlt als in diesen Sekunden. Was mich am meisten verstörte, war, dass mir seine Augen seltsam vertraut vorkamen, wie Augen, die ich jeden Tag sah, von denen ich nur nicht wusste, wem sie gehörten. Die Stimme des alten Mannes war kaum lauter als ein Flüstern, aber es lag darin eine so große Dringlichkeit, dass es mich fröstelte. Ich hörte es klingeln, die Pause war zu Ende, und ich wollte zurück in die Schule, um mich mit dem Strom der anderen Schüler durch die Korridore ins Klassenzimmer zu schieben, aber ich fühlte mich wie paralysiert durch den bohrenden Blick aus diesen Augen, die jünger wirkten als der Körper.
    »Sag ihm, dass ich es zurück will, Joey«, zischte er.
    »Woher wissen Sie, wie ich heiße?«
    »Du magst vielleicht naiv sein und ein Narr,

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