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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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von Verrücktheit vorzutäuschen, wenn man zu alte Knochen hat, um noch einen weiteren Winter auf der Straße zu verbringen. Dort hat mich dann ein Rechtsanwalt aufgetrieben, um mir zu mitzuteilen, dass ich dieses Anwesen geerbt habe. Als Bauland ist es Millionen wert. Schon komisch – mein ganzes Leben lang hatte ich immer viel Zeit und nie Geld. Jetzt habe ich endlich Geld, aber die Zeit läuft mir davon. Bald wird dieses Haus als Zuhause endgültig ausgedient haben, deshalb verhalte dich jetzt ruhig verantwortungslos, Geraldine. Mach kaputt, was du willst, bald wird irgendein Bauunternehmer sowieso alles, was hier von dem Haus noch übrig ist auf eine Müllkippe werfen und keiner wird sich mehr an die erinnern, die einmal hier gelebt haben.«
    Geraldine schleuderte die Flasche über das Geländer und gab ein schuldbewusstes Kichern von sich, als sie auf den Fliesen zerschellte. Sie musste daran denken, dass alles irgendwann auf einer Müllkippe landen würde, auch ihre Keksdose mit den Erinnerungsstücken an ihre Kindheit; wie alles dem Vergessen anheimfällt, wenn es niemanden mehr gibt, der sich erinnert. Aber sie verdrängte diese düsteren Gedanken schnell, weil sie sich alle drei weiter in den Weitwurfwettbewerb stürzten. Schließlich gelang es Shane, die Haustür zu treffen. Er machte eine Verbeugung, als Geraldine applaudierte und Thomas ihm einen Schokoriegel aus dem Proviantsack anbot, den sie ihm mitgebracht hatten.
    »Ich bitte vielmals um Verzeihung, dass ich keinen größeren Preis zu verleihen habe; aber ich werde erst nach dem Verkauf dieses Hauses reich sein. Doch habe ich meine Rechtsanwälte wissen lassen, dass sie es nicht zum Verkauf ausschreiben dürfen, bevor sie sicher sind, dass ich auch wirklich tot bin.«
    »Und wie werden sie es wissen?«, fragte Geraldine.
    »Einmal in der Woche rufe ich sie an, wenn ich eine Runde drehe, um mir Lebensmittel und einen Nachschub an Schmerztabletten zu besorgen. Sie haben von mir die Anweisung erhalten, dass sie die Haustür aufbrechen lassen sollen, wenn sie drei Wochen lang keine Nachricht von mir erhalten. Sie werden mich hier tot finden, mit den Anweisungen für mein Begräbnis. In einem sicheren Versteck werden sie auch mein Testament finden. Ich habe es noch nicht verfasst, weil ich noch nicht weiß, wem ich meinen Besitz vererben soll. Vielleicht einem von euch beiden. Täusche ich mich oder spüre ich bei dir den Wunsch, später unbedingt mal reich zu sein, Shane?«
    »Ich bin nicht wegen des Geldes gekommen«, sagte Shane verlegen. »Wir sind gekommen, um Ihnen etwas zu essen zu bringen.«
    »Und das weiß ich auch sehr zu schätzen«, sagte der alte Mann. »Ich weiß nämlich, was Hunger ist. Wenn man einmal den Hunger geschmeckt hat, steckt er in einem drin, das vergisst man nie wieder. Ich erinnere mich noch daran, wie ich einmal frühmorgens in den Dubliner Bergen Beeren gepflückt habe, als ich dort jemand abholen sollte. Ich hatte davor seit Tagen nichts gegessen. Seither habe ich noch oft in meinem Leben Hunger gehabt, nach Essen, nach Seelenfrieden, vor allem aber nach menschlicher Wärme. Mein ganzes Leben lang habe ich immer diese Ruhelosigkeit in mir gehabt, wie einen Fluch. All die Städte, all die Plackerei, so viele Züge,so viele Landstraßen, so viele Strände, die ich in der Morgendämmerung abgesucht habe, nach irgendetwas, das ich bergen oder retten könnte. Einen hungrigen Magen erträgt man ja noch, aber der schrecklichste Hunger ist der nach menschlicher Gemeinschaft.«
    Thomas schloss die Augen und Shane konnte nur mutmaßen, wie schmerzlich die Erinnerungen an die Einsamkeit in seinem Leben sein mussten. Die Flamme der Kerze flackerte und Shane hatte Angst, dass sie jeden Augenblick erlöschen könnte. Aber als Thomas die Augen aufschlug, beruhigte sie sich wieder.
    »Meine Oma macht sich bestimmt Sorgen«, sagte Geraldine. »Wir müssen jetzt gehen.«
    Thomas nickte. »Das ist gut so«, murmelte er. Aber als Shane und Geraldine sich verabschieden wollten, fiel sein Oberkörper plötzlich nach vorne. Er hielt beide Hände vors Gesicht und wiegte sich vor und zurück.
    »Haben Sie Schmerzen?«, fragte Geraldine besorgt.
    Thomas zog die Hände vom Gesicht weg und schaute sie an. Seine Augen hatten einen vollkommen anderen Ausdruck, als er ihre Blicke jetzt erwiderte – ob wehmütig oder gerissen, konnte Shane nicht entscheiden. »Ich habe darum gebetet, dass du nicht zurückkommst, junger O’Driscoll, aber der

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