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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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geprügelt, doch jetzt kann ich es mal wagen, schließlich gibt es ja keinen mehr, der mir vorschreiben kann, was ich zu tun und zu lassen habe.«
    Im Lichtstrahl von Shanes Taschenlampe leuchtete das Gesicht von Thomas auf, der sich über das Geländer beugte und zu ihnen herunterschaute. Der Strahl war schwächer als vorhin, die Batterien würden bald leer sein. Shane merkte, dass er überhaupt nicht wusste, ob er dem alten Mann nun trauen konnte oder nicht.
    »Sie haben uns erschreckt«, rief Geraldine empört. »Wir hätten uns verletzen können.«
    »Stimmt«, meinte Thomas. »Aber ich hab euch auch gesagt, dass ihr nicht wiederkommen sollt.«
    »Wir haben was zum Essen mitgebracht«, rief Geraldine. »Tut mir leid, wenn wir Sie stören, aber wir dachten, Sie haben vielleicht Hunger.«
    Thomas wandte das Gesicht ab, und als er wieder zu ihnen herunterblickte, hatte er Tränen in den Augen. »Ihr stört mich nicht«, sagte er sanft. »Eine der Urtaten menschlichen Mitgefühls ist es, einem Hungernden Essen zu bringen.« Er wischte sich ungeschickt mit dem Ärmel über die Augen und lächelte. »Dafür habt ihr es euch verdient, eine Führung durch das ganze Haus zu erhalten.« Er merkte, wie sie einen zögerlichen Blick wechselten. »Es dauert auch nicht lang, obwohl ich den Eindruck habe, dass mein Bruder nie irgendwas weggeschmissen hat.«
    Thomas zündete eine Kerze an und hielt sie hoch, damit Geraldine und Shane die Treppe zu ihm hochsteigen konnten. Geraldine legte das Bündel mit den Lebensmitteln vor ihm ab und Thomas beugte sich vor, um den Inhalt zu untersuchen. »Noch mal vielen Dank«, sagte er zu Geraldine und blickte dann zu Shane. »Es ist mutig von euch, dass ihr wiedergekommen seid, aber dein Großvater hatte auch viel Mut. Jack und ich waren gute Freunde. Teils hab ich gehofft, euch wiederzusehen; teils habe ich darum gefleht, dass ihr mich einfach vergessen würdet.«
    »Wir haben uns Sorgen um Sie gemacht«, sagte Shane.
    »Du brauchst dir um mich keine Sorgen zu machen. Die Ärzte in Amerika haben mir sechs bis neun Monate gegeben.«
    »Und wann war das?«, fragte Geraldine.
    Der alte Mann lächelte. »So ungefähr vor sechs bis neun Monaten. Die Tabletten helfen gegen die schlimmsten Schmerzen, aber sie sind so stark, dass ich ganz kindisch und ausgelassen werde. Was bedeutet, dass ich mich wieder so übermütig wie als kleiner Junge fühle, wenn ich nicht gerade schlimmeSchmerzen habe.« Er griff nach einer der staubigen Milchflaschen, die er in einer langen Reihe zu seinen Füßen aufgestellt hatte. »Wollen wir mal sehen, wer es schafft, von hier aus die Haustür zu treffen.« Er beugte sich weit über das Geländer vor und schmiss die Flasche in Richtung Tür. Sie zerschellte knapp vor ihrem Ziel auf den Fliesen. Dann reichte er Geraldine eine Flasche.
    »Aber das kann man doch nicht machen«, rief Geraldine entrüstet.
    »Warum nicht?«
    »Das tut man einfach nicht. Es ist …« Geraldine suchte nach dem Wort, das ihre Großmutter gebrauchen würde. » … verantwortungslos.«
    »Richtig«, stimmte Thomas ihr zu. »Aber die Zeit, in der man verantwortungsbewusst handeln muss, ist für euch noch nicht gekommen und für mich schon lange vorbei. Außerdem ist es mein Haus und niemand kann mir da mehr was verbieten. Meine tyrannische Mutter ist schon lange tot.«
    »Ich werf gern eine Flasche«, sagte Shane. »Wetten, dass ich die Tür treffe?«
    »Was anderes hätte ich von dir gar nicht erwartet.« Thomas reichte ihm eine Flasche. »Schließlich hab ich das Spiel damals mit deinen Großeltern erfunden. Hat bloß ein Dreivierteljahrhundert gedauert, bis ich es jetzt spielen kann. Molly, Jack und ich haben uns gar nicht eingekriegt vor Lachen, wenn wir uns vorgestellt haben, was meine Mutter wohl dazu gesagt hätte. Los, erweise dich deines Großvaters als würdig.«
    Thomas sagte das so, dass es wie eine Probe klang. Shane warf seine Milchflasche mit aller Kraft und sie traf nur wenige Zentimeter vor der Tür auf dem Boden auf. Er genoss das Gefühl, dass der Geist seines Großvaters, und zwar als Jungein seinem Alter, ihn dabei vielleicht beobachtete. Der Gedanke gefiel ihm. »Jetzt bist du dran«, drängte er Geraldine, aber sie wollte nicht so recht, bis Thomas ihr schließlich eine verstaubte Flasche in die Hand drückte.
    »Den letzten Winter habe ich in einem Irrenhaus in New Jersey verbracht«, sagte er. »Nicht weil ich wirklich verrückt war, sondern weil man lernt, die Zeichen

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