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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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selbstsüchtigere Teil in mir hat gehofft, du würdest es. Ich besitze nicht mehr viel Kraft und es wartet noch eine Aufgabe auf mich, die ich nicht allein bewältigen kann.«
    »Welche Aufgabe?«, fragte Shane.
    »Alte Häuser sind wie alte Menschen: voller Geheimnisse. Das hier war ursprünglich keine Molkerei.«
    »Was dann?«
    »Ein wohlhabender Kaufmann namens Michael Byrne hat dieses Haus und die angrenzenden Gebäude erbaut.« Thomasstand langsam auf. »Der Grund, warum er sich dafür gerade diese Stelle ausgesucht hatte, blieb ein Jahrhundert lang verborgen. Byrne war ein Mann, der sich viele Feinde gemacht hatte. Die Adeligen und Honoratioren hier in der Gegend betrachteten ihn von oben herab, weil er mit nichts angefangen hatte. Er war ein junger Stallbursche gewesen, als er den Leichnam seines Herrn entdeckte, eines berüchtigten Lebemannes und Wüstlings. Henry Dawson, so hieß er, war einmal der Eigentümer von Castledawson House gewesen.«
    »Wie ist dieser Michael Byrne zu seinem Reichtum gekommen?«, fragte Shane.
    »Manche Leute sagten, aufgrund seiner Bauernschläue; andere sagten, es sei dabei nicht mit rechten Dingen zugegangen. Er war ein Spieler. Man sagt, er habe einen Satz Würfel besessen, aus Menschenknochen geschnitzt, mit denen er nie verlor. Als er starb, besaß er ein gutes Dutzend Anwesen rund um Blackrock, aber in einem Haus schaffte er es nie, der Herr und Eigentümer zu werden, da mochte er sich noch so sehr darum bemühen – Castledawson House. Die neuen Besitzer, die es nach Henry Dawsons Tod gekauft hatten, weigerten sich, es in seine Hände zu geben, obwohl er ihnen dafür sehr viel Geld bot. Jahr um Jahr verschwand Michael Byrne für einige Zeit und die Leute erzählten sich, dass er wüste Zechtouren unternahm. Regelmäßig tauchte er dann vor den Toren von Castledawson House auf, rüttelte an den Eisenstäben und rief: ›Ich will es zurück.‹«
    »Aber Sie haben doch gesagt, dass er nur Henry Dawsons Stallbursche war«, sagte Geraldine.
    »Als es ihm nicht gelang, in den Besitz von Castledawson House zu gelangen, erbaute er dieses Haus direkt gegenüber von den Toren des Anwesens, in dem er einst niedere Diensteverrichtet hatte. Er vergaß nie, dass er in jungen Jahren gehungert hatte. Er verteilte großzügig Almosen an die Armen. Als hier die Cholera ausgebrochen war, ging er furchtlos zwischen den Kranken und Sterbenden umher. Er spendete Trost, wo er nur konnte. Man sagt, dass trotz aller seiner Laster auch etwas von einem Heiligen in ihm gewesen sei.« Thomas McCormack winkte ihnen, dass sie ihm folgen sollten. »Es herrschte große Aufregung, als Michael Byrne im Keller dieses Hauses mit durchgeschnittener Kehle aufgefunden wurde. Und jetzt will ich euch in ein Geheimnis einweihen, von dem kein anderer hier in Blackrock weiß, jedenfalls nicht unter den Lebenden.«

Z WEIUNDZWANZIGSTES K APITEL
    J OEY
    N OVEMBER 2009
    A ls ich am nächsten Morgen aufwachte, konnte ich kaum glauben, dass sich all die Dinge in der Nacht tatsächlich ereignet hatten. Schließlich hatte ich ja nur vorgehabt, mit Shane zusammen Geschichte zu lernen. Und dann hatte ich auf einmal ein Mädchen sterben sehen, war an einem Autodiebstahl beteiligt gewesen und hatte meine innersten Gedanken und Gefühle einem nächtlichen Gespenst oder vielleicht auch nur der kalten Nachtluft preisgegeben. Jetzt im Morgenlicht war mir klar, dass Shane ein Geschichtenerzähler und Schwindler war, aber seine Schilderung der Gespensterhorden, die sich mit angstverzerrten Gesichtern gegen die Scheiben unseres dahinrasenden Autos pressten, verfolgte mich immer noch.
    Während des Frühstücks sagte Mum wenig. Die vertraute Nähe zwischen uns, die wir immer als selbstverständlich hingenommen hatten, war verschwunden. Als sie mich auf ihrem Weg zur Arbeit am Temple Hill bei meiner Schule aussteigen ließ, war ich erleichtert, dem Schweigen im Auto zu entkommen und ihrer schweigenden Anschuldigung, dass ich mich da in irgendwas reinziehen ließ, das ihr nicht passte. Ich hoffte, dass Shane daran gedacht hatte, mir meine Schultasche mitzubringen. Doch ich fürchtete mich auch davor, ihm wieder zu begegnen. Wir stellenalle von Zeit zu Zeit mal was Verrücktes an, aber Shane war von einem so unbändigen Willen besessen gewesen, mich unbedingt nach Bull Island zu bringen, dass er wohl nicht davor zurückgescheut hätte, dafür falls nötig jemanden umzubringen. Ich hoffte nur, dass er mit unseren Heldentaten in der

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