Wo die verlorenen Seelen wohnen
Thomas aber vertraut den Ärzten nicht. Ärzte versuchen immer, ihre Patienten zum Reden zu bringen. Doch Thomas will nicht reden. Er spürt, dass der Tod naht, und er will mit ihm allein gelassen werden, in seinem Stuhl am Fenster, wo er in das Schneetreiben hinausblickt.
Hinter ihm sitzen die anderen Patienten der Station auch auf Stühlen herum, dösen vor sich hin oder starren blicklos ins Leere. Viele haben keine Ahnung, warum sie hier sind. Thomas ist hier, weil seine morschen Knochen nicht noch einen Winter auf der Straße überstehen würden. Er ist zu alt, um es mit den Typen auf Crack aufzunehmen, die gegen die Pappkartons treten, mit denen er sich vor der Kälte zu schützen versucht. Nichts hält den Wind besser ab als Pappkartons, aber nichts weicht auch im Regen so schnell auf. Auf der Straße zu leben war einfacher, als die Leute betrunken waren oder einfach nur durchgeknallt. Damit konnte Thomas umgehen, denn jeder Irre und Verrückte kann beruhigt werden, solange noch etwas Menschliches in seiner Seele geblieben ist. Thomas versteht sich auf Seelen. Er sieht den Schmerz in den Seelen der anderen. Thomas hat sich gut darauf verstanden, sie zu beruhigen, so wie er ein verängstigtes Schwein zu beruhigen wusste. Aber die Typen von heute, die auf Crack, sind anders, weil die Droge ihnen die Seele geraubt hat. Sie würden keine Gewissensbisse empfinden, ihn getötet zu haben, weil sie sich danach nicht mehr daran erinnern würden.
Und darum hatte Thomas vor ein paar Wochen, als ein Polizeiauto vor dem Lagerhaus hielt, in dessen Eingang er zu schlafen versuchte, so getan, als wäre er geisteskrank. Polizisten werden immer nervös, wenn sie befürchten, dass ein alter Obdachloser bei ihnen auf der Wache sterben könnte. Sie müssten dann jede Menge Papiere ausfüllen. Thomas wusste, dass sie ihn in ein Irrenhaus einliefern würden, und in dem Irrenhaus hier gibt es keine Zwangsjacken oder Elektroschockbehandlungen. Ihm kommt es eher wie ein Fünfsternehotel vor, wo einem das Mittagessen zusammen mit ein paar Spritzen serviert wird. Seine Mitpatienten sind überempfindliche, kranke Menschen, die eingebildete Stimmen hören, oder Schwindler wieer, die gelernt haben, wie man eine Geisteskrankheit mitsamt Stimmen vortäuscht, um im Winter besser über die Runden zu kommen. Thomas bleibt lieber für sich, weil er genauso wenig seinen Verstand verloren hat wie die Schwindler – nur mit dem Unterschied, dass er tatsächlich Stimmen hört.
Nichts kann diese Stimmen zum Schweigen bringen. Seit Monaten flüstern sie ihm schon zu: »Bring uns nach Hause.« Im Verlauf seines Lebens hat er vergebens versucht, die Stimmen durch Alkohol oder schwere Arbeit zu betäuben. Er hat sich bemüht, sie durch Psalme und Predigtworte in ekstatischen Gottesdiensten zu übertönen. Aber er hat herausgefunden, dass es am besten ist, einfach nicht auf ihr flehentliches Bitten zu reagieren.
Als eine Stimme seinen Namen ruft, während er am Fenster sitzt, braucht es bei Thomas deshalb eine Weile, bis er begreift, dass sie nicht aus seinem eigenen Innern stammt. Er dreht den Kopf. Zwei Männer stehen hinter ihm. Sie sind keine Patienten, dafür strahlen sie zu viel Autorität aus. Sie können keine Pfleger sein, weil er um diese Zeit nie irgendwelche Medikamente nehmen muss. Sie können keine Besucher sein, weil er nie Besuch erhält. Deshalb müssen sie Ärzte sein und Ärzte bedeuten Ärger. Letzte Woche hat ihn ein Arzt untersucht und ihm gesagt, er habe nur noch sechs Monate zu leben. Der Arzt hat ihm auch von einer Schmerztherapie erzählt, mit der sie ihm die letzten Wochen erleichtern könnten, aber Thomas hat nicht die Absicht, noch so lange in dem Irrenhaus zu bleiben. Wenn es Frühjahr wird, sucht er sich irgendwo einen Platz zum Sterben, unter freiem Himmel, damit er die Sterne sehen kann. Auf Ärzte setzt er nur bei zwei Dingen: Sie sollen ihn zu Beginn des Winters für geisteskrank erklären und ihm im Frühjahr attestieren, dass er wieder bei voller geistiger Gesundheit ist.
»Thomas McCormack?«, fragt der Mann noch einmal.
Thomas beschließt, sich taub zu stellen. Es hat in den letzten Tagen kräftig geschneit. Wenn sie ihn nicht mehr hierbehalten wollen, wird er in der Kälte draußen vor Unterkühlung sterben.
»Sind Sie Thomas McCormack aus Irland?«
Thomas zieht die Schultern nach vorne. Wenn sie ihn nicht in Ruhe lassen, muss er vielleicht einem von ihnen in die Hand beißen. Eine Gummizelle ist nicht gerade
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