Wo die verlorenen Seelen wohnen
ein schöner Ort, um dort Weihnachten zu verbringen, aber dort überlebt man wenigstens, anders als auf einer Parkbank.
»Sind Sie Thomas McCormack aus der Castledawson Avenue in Blackrock, jüngster Sohn der verstorbenen Mrs Margaret McCormack und Bruder der verstorbenen Francis und Peter McCormack?«
Plötzlich diese Namen zu hören kommt so unerwartet, dass Thomas überrascht aufblickt. Er erkennt, dass einer der beiden Männer ein Arzt ist, aber der andere Mann ganz bestimmt nicht, denn er trägt einen teuren Anzug. Für einen normalen Polizisten ist er viel zu gut angezogen. Vielleicht haben sie ja einen Kommissar geschickt, um ihn festzunehmen.
»Sind Frankie und Pete tot?«
Der Mann im Anzug setzt sich neben Thomas und kann seine Aufregung nicht verbergen. »Also sind Sie der Thomas McCormack, nach dem ich suche?«
»Ich habe Sie etwas gefragt«, sagt Thomas.
»Ihre Brüder sind beide vor ein paar Jahren gestorben.«
»Bei ihrem hohen Alter muss das schon vor einiger Zeit gewesen sein«, sagt Thomas. »Sie haben sich Zeit gelassen.«
Der Mann nickt. »Es hat eine ziemliche Weile gedauert, bis ich Sie gefunden habe.«
»Und ich hab mich ziemlich lang versteckt«, antwortet Thomas. »Siebzig Jahre – lebenslang wäre da schon längst abgesessen. Aber ich wusste, dass die Polizei mich irgendwann finden würde. Ich wusste es seit der Nacht, als ich Josephs Leichnam auf den Felsen in der Nähe von Blackrock House zurückließ. Bringen Sie mir einen Stift. Ich werde mein Geständnis gleich unterschreiben. Ja, ich habe einen Mord begangen.«
Die beiden Männer schauten sich an. »Was für einen Mord haben Sie denn begangen?«
Thomas seufzt. »Spielen Sie keine Spiele mit mir, mein Herr, dann spiele ich auch keine Spiele mit Ihnen. Ich habe einem stummen, buckeligen Alten die Kehle durchgeschnitten als Vergeltung für ein Verbrechen, das er an mir begangen hatte. Mit seinem eigenen Messer mit schwarzem Griff. Ist es ein Verbrechen, den eigenen Körper zurückhaben zu wollen? Ich hatte vier Jahre als Krüppel hinter mir, vier Jahre, in denen ich im Schweinekoben neben grunzenden Schweinen schlief und Frondienste für die Nonnen in Sion Hill verrichtete. Ich musste mit ansehen, wie ein Untoter meinen Platz einnahm und als frommer junger Mann ins Priesterseminar eintrat. Ich lockte ihn aus dem Seminar heraus. Ich provozierte ihn so lange, bis er mit dem Messer auf mich losging. Er war schließlich so zornig, dass er ganz vergaß, wem er da die Kehle durchschnitt, nämlich seinem eigenen früheren Ich. Der Schmerz war grässlich, aber ich war auf einmal aus dem Körper des buckeligen Krüppels befreit und steckte wieder in meiner alten Haut. Trotzdem war ich ihn nicht losgeworden: Seine Stimme und die Stimmen der anderen verlorenen Seelen stecken seither wie ein Virus in meinem Blut. Ich hätte in das Priesterseminar zurückkehren können, doch ich wusste, dass ich zu den Verdammten gehörte und deshalb nur schwarze Messen lesen konnte. Ich flüstertedie Sterbegebete in Straßengräben und Obdachlosenasylen. Ich diente Gott auf meine ganz eigene Weise, als verderbter Priester, der durch sein Verschwinden über seine Mutter Unehre brachte. Jetzt wissen Sie, wen ich umgebracht habe, meine Herren. Und nun schaffen Sie mich nach Hause, nach Irland, und wenn ich nicht vorher vom Krebs umgebracht werde, dürfen Sie mich gerne wegen meines Verbrechens hängen.«
S IEBENUNDDREIßIGSTES K APITEL
J OEY
N OVEMBER 2009
A m Freitagabend konnte ich lange nicht einschlafen. Als nich dann endlich doch in den Schlaf gefunden hatte, quälten mich merkwürdige Träume, in denen Shane und Thomas zu einer Person verschmolzen. Ich wachte schweißgebadet auf, im festen Glauben, ich sei von einem verzweifelten Schrei um Gnade aufgeweckt worden. Das einzige Geräusch in meinem Zimmer war das Ticken meines Weckers, trotzdem war ich mir sicher, dass ich mir den Aufschrei nicht eingebildet hatte. Allerdings wusste ich nicht, ob er von einem Schwein oder von einem Menschen gekommen war. Ich wurde das Gefühl einer schlimmen Vorahnung nicht los und ertrug es nicht länger, allein in meinem Zimmer zu bleiben. Aber als ich vor der Schlafzimmertür meiner Mutter stand und schon den Türgriff nach unten drücken wollte, kam ich mir viel zu alt vor, um wegen irgendwelcher Albträume zu ihr zu flüchten. Und wie hätte ich ihr das alles erklären sollen? Als sie am nächsten Morgen früh aufstand, um zur Arbeit zu gehen, war sie
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