Wo die verlorenen Seelen wohnen
haben. Die Ärzte sagen, dass Sie zumindest geistig im Vollbesitz ihrer Kräfte sind, Mr McCormack. Sie sind jetzt ein reicher Mann. Wenn Sie das Haus verkaufen, können Sie sich die beste medizinische Versorgung leisten und die Zeit, die Ihnen noch bleibt, in größtem Komfort verbringen.«
»Kann ich nach Hause?«, fragt Thomas.
»Ich kann Ihnen einen Flug buchen. Ich kann Ihnen auch sofort ein Zimmer in der Blackrock Klinik reservieren, die neben Ihrem Haus erbaut worden ist.«
Thomas schließt die Augen. Der Rechtsanwalt fragt sich schon, ob er wohl eingeschlafen ist. Aber Thomas ist in eine Kindheitserinnerung versunken. Er sieht sich wieder als Junge die Rock Road entlangrennen, einem kleinen Flugzeug am Himmel hinterher, von einem Glücksgefühl erfüllt. Das ganze Leben lag damals vor ihm. Er schlägt die Augen auf und blickt den Rechtsanwalt an. »Ich hätte nicht gedacht, dass sie sich jemanden wie Sie aussuchen.«
»Wie meinen Sie das, Mr McCormack?«
»Ich will in keine Klinik. Das Haus und das Grundstücksollen nach meinem Tod verkauft werden. Nächsten Sommer werde ich nach Hause fliegen, um darin zu wohnen.«
»Ihr Krebs befindet sich bereits in einem sehr fortgeschrittenem Stadium«, sagt der Arzt. »Sie werden dann wahrscheinlich nicht mehr leben.«
»Das können Sie mir glauben, die werden mich nicht sterben lassen, bevor ich nicht in Blackrock bin.«
»Ich muss Sie warnen, Mr McCormack«, sagt der Rechtsanwalt. »Das Haus ist in einem sehr verkommenen Zustand. Es müssen aufwendige Renovierungsarbeiten durchgeführt werden, um es bewohnbar zu machen.«
Thomas blickt zu dem Rechtsanwalt. »Ich will nicht, dass irgendjemand einen Fuß in dieses Haus setzt.«
»Es wird aber kein angenehmer Platz zum Leben sein.«
Thomas lacht auf. »Ich will dort auch nicht leben, Mr Weinberg. Ich habe dort etwas viel Wichtigeres zu tun.«
N EUNUNDDREIßIGSTES K APITEL
J OEY
N OVEMBER 2009
N achdem Geraldine so plötzlich davongerannt war, ging ich nicht gleich nach Hause. Ich musste erst über alles nachdenken und den Kopf etwas freier bekommen. Ich machte einen langen Spaziergang bis Booterstown Marsh, kletterte dort über den Zaun und saß lange inmitten der Wildnis des Vogelschutzgebiets. Um mich herum war es still. Nur manchmal sah ich einen Zug vorbeifahren.
Als ich nach Brusna Cottages zurückkam, war es schon nach sieben. Ich sperrte die Haustür auf und wusste sofort, dass etwas nicht stimmte. Normalerweise hatte Mum immer das Radio an, um etwas Gesellschaft zu haben, aber diesmal war es im ganzen Haus ruhig. Dann hörte ich aus dem Wohnzimmer ein leises Schluchzen.
Ich stand im Flur und hatte keine Ahnung, was los war, aber ich befürchtete das Schlimmste. Als ich das Zimmer betrat, saß Mum mit dem Rücken zu mir. Auf dem Teppich lagen drei rote Rosen, ein umgekipptes Glas und eine halb leere Wodkaflasche. Es stank so stark nach Schnaps, dass mir beinahe schlecht wurde. Mum weinte. Ich wusste nicht, wie ich mich verhalten sollte. Schließlich setzte ich mich neben sie und legte ihr zärtlich den Arm um die Schultern. Ich dachte, sie würde sich daraufhin zumir umdrehen und mich umarmen, aber sie zuckte bei meiner Berührung zusammen und stand rasch auf.
»Warum hast du mir das angetan, Joey?«
»Ich versteh dich nicht, Mum. Was meinst du damit?«
»Findest du das witzig? Willst du mir damit irgendwas beweisen? Oder mich verspotten?«
»Was ist los, Mum?«
Sie sah mich mit einem verstörten Gesichtsausdruck an. »Ich dachte, ich traue meinen Augen nicht, Joey. Als ich reinkam und die drei Rosen gesehen habe, hab ich eine Sekunde lang geglaubt, dein Vater wäre hier gewesen.«
»Hast du getrunken?«
Sie sah mich mit kaltem Blick an. »Ging es dir also darum? Und was wolltest du damit beweisen? Hast du mich unbedingt betrunken sehen wollen? Nach fünfzehn Jahren, in denen ich erfolgreich dagegen angekämpft habe, jemals wieder auch nur ein Gläschen zu trinken? Ich geh so selten abends aus, weil ich es nicht ertrage, wenn um mich herum in den Pubs sich alle mit Bier und Schnaps volllaufen lassen. Nur weil ich keinen Alkohol mehr trinke, heißt das nicht, dass ich keine Alkoholikerin mehr bin. Ich bin einfach nur trocken, mehr nicht. Nach dem Unfall deines Vaters wollte ich mich zuerst zu Tode saufen. Aber das konnte ich dann nicht, weil ich ja dich hatte. Für dich musste ich weiterleben. Ich hab mit dem Trinken erst angefangen, als dein Vater zu unserem ersten Date eine Flasche
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