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Wo die verlorenen Seelen wohnen

Wo die verlorenen Seelen wohnen

Titel: Wo die verlorenen Seelen wohnen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dermot Bolger
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leicht in Versuchung führen. Neugierde wird bei euch immer über Klugheit siegen.«
    Ich packte ihn wieder. »Erwähn noch einmal meinen Vater und ich mach Hackfleisch aus dir.«
    Shane fasste mich an den Handgelenken und schob meine Hände beiseite. Dazu flüsterte er Laute, als ob er ein verschrecktes Tier beruhigen wollte. »Hast du geglaubt, ich krieg nicht mit, dass du gestern Abend in dem Haus warst?«
    »Du bist nicht normal«, sagte ich. »Du weißt viel zu viel über alle möglichen Dinge, von denen du gar nichts wissen kannst. Ich hab dir nie erzählt, dass Mum früher getrunken hat.«
    »Musstest du auch nicht.« Er ließ meine Handgelenke los. »Man braucht sich die Texte deines Vaters bloß genau anzuhören, dann erfährt man alles über deine Eltern und ihre gemeinsame Geschichte. Ein Minnesang, der durch die Ankunft eines Babys beendet wurde. Drei rote Rosen, drei rote Rosen. Soll ich dir was sagen, Joey? Ich glaub, dass du ein unerwünschter Zwischenfall warst. Danach war Schluss mit den Rosen. Vielleicht hat sein Tod ja was Gutes gehabt. Da wurde aus deiner Mutter wenigstens keine betrunkene Schlampe, die eine Enttäuschung nach der anderen erleben musste.«
    Ich schlug Shane so heftig ins Gesicht, dass er aus der Nase blutete. Sein Hinterkopf knallte gegen die Tür. Ich dachte, jetzt würde er es mir aber zurückgeben, doch er verzog kaum das Gesicht und ließ sich dann in den Sessel fallen.
    »Was für Geschichten hat dir der alte Mann denn gestern Abend erzählt?«
    »Er ist krank im Kopf«, sagte ich. »Er hat die fixe Idee, eigentlich ein Junge in meinem Alter zu sein, dem sein Körper geraubt wurde.«
    »Klingt wirklich krank. Ich meine, wer würde ihm denn schon eine solche Geschichte abnehmen?« Shane lachte, aber ich merkte, dass er meine Reaktion sehr ernst beobachtete. »Du etwa?«
    »Na, ich weiß nicht.«
    »Aber natürlich wäre es der echt krasseste Diebstahl, den es gibt: einen anderen der eigenen Identität zu berauben. Für das, was von solchen Leuten blieb, gab es früher einen Namen. Man nannte sie Untote. Ist alles purer Aberglaube. Aber stell dir einmal vor, wie das wäre: Leute sterben zwar, aber sie verschwinden nicht. Wenn du die Straße langgehst, bewegst du dich durch Wolken umherirrender Geister, aber du bist zu sehr mit dir selbst und deinen banalen Problemen beschäftigt, um ihr Flehen zu hören. Und wenn es nun so wäre, dass es immer wenigstens einen Menschen geben muss, der ihr Geflüster hören kann und sie dadurch lebendig hält?«
    »Du klingst wie Thomas.«
    Shane ging zum Waschbecken. Er machte ein Handtuch nass und wischte sich das Blut aus dem Gesicht. »Vielleicht binich ihm ja auch ähnlich. Jedes Mal, wenn ich in diesen Spiegel schaue, sehe ich sein Gesicht und eine unendliche Reihe anderer Gesichter. Hast du mal gedacht, dass er vielleicht auch recht haben könnte?«
    »Du redest genauso seltsam wie er.« Meine Wut hatte sich in Unwohlsein verwandelt. Ich setzte mich auf die Bettkante.
    »Und ich bin genauso einsam. Ich beneide dich darum, dass du eine Mutter hast, die dich liebt, Joey. Ich beneide dich darum, dass du eines Tages sterben wirst.«
    »Wir müssen alle sterben.«
    »Müssen wir das?« Shane drehte sich vom Spiegel weg und setzte sich neben mich aufs Bett. »Hast du eine Ahnung, wie alt ich bin, Joey? Und wie einsam man sich fühlt, wenn man sich nie jemandem anvertrauen kann? Weil man nichts mit jemandem teilen kann?«
    Ich hörte, wie die Haustür aufging und die drei Studentinnen, die im ersten Stock Zimmer gemietet hatten, nur einen halben Meter von mir entfernt auf der anderen Seite von Shanes verschlossener Tür vorbeigingen. Ich hätte am liebsten um Hilfe gerufen, aber wie hätte ich ihnen verständlich machen sollen, wovor ich eigentlich Angst hatte? Ich fühlte mich, als würde sich ein Netz immer dichter um mich schließen.
    »Was willst du von mir?«
    »Ich will wissen, wie es sich anfühlt, normal zu sein«, antwortete Shane. »Wie es sich anfühlt, Dinge das erste Mal zu erleben. Ich will an deiner Seite sein, wenn dein Leben allmählich Gestalt annimmt. Ich will, dass du für mich Geraldine küsst, weil Geraldine mich nie küssen wird. Und selbst wenn sie es täte, könnte ich ihre Lippen nicht wirklich spüren, weil meine vom Alter trocken und rissig sind. Ich kann nichts mehr fühlen und schmecken. Ich brauche, was du hast.«
    »Und was hab ich?«
    »Unschuld. Das Leben liegt noch vor dir, mit all seinen Glücksverheißungen,

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